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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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wurden angegriffen, und Vodalus blieb zurück, um die Angreifer abzuwehren, während der andere Mann die Frau in Sicherheit brachte.« (Ich hielt es für klüger, nichts von der Leiche zu erwähnen und zu verschweigen, daß ich den Mann mit der Axt getötet hatte.)
    »Ich an deiner Stelle hätte mitgekämpft – dann wären statt einem drei Kämpfer zur Stelle gewesen. Erzähl weiter!«
    »Hildegrin war der Mann bei Vodalus, das ist alles. Wenn wir zuerst ihm begegnet wären, hätte ich – vermutlich wenigstens – eine gewisse Ahnung, warum ein Hipparch der Leibgarde mich herausgefordert hatte. Und warum man mir überdies eine heimliche Botschaft übermittelte. Alles Dinge, worüber ich mit der Chatelaine Thecla immer gelacht habe: Spitzel und Ränke, getarnte Treffen, verlorene Erbschaften. Was ist denn, Agia?«
    »Stoße ich dich ab? Bin ich so häßlich?«
    »Du bist schön, siehst aber aus, als würde es dir gleich übel. Hast wohl zu schnell getrunken.«
    »Hier.« Mit einer raschen Drehung entledigte Agia sich ihres schillernden Gewandes; es lag um ihre braunen, staubigen Füße wie ein Haufen Edelsteine. Ich hatte sie in der Kathedrale der Pelerinen nackt gesehen, aber nun (ob wegen des Weines, den ich getrunken hatte, oder ob wegen des Weines, den sie getrunken hatte, oder wegen des Lichtes, das nun heller oder dunkler war, oder weil sie sich damals, die Brüste bedeckt und ihre Fraulichkeit zwischen den Schenkeln versteckend, gefürchtet und geschämt hatte) zog sie mich ungleich stärker an. Ich war wahnsinnig vor Verlangen und spürte, wie mir Kopf und Zunge schwer wurden, als ich ihren warmen Leib an meine kalte Haut drückte.
    »Severian, warte! Egal was du denkst, eine Hure bin ich nicht. Aber es hat seinen Preis.«
    »Welchen?«
    »Du mußt mir versprechen, diesen Zettel nicht zu lesen. Wirf ihn in die Kohlenpfanne!«
    Ich ließ sie los und trat zurück.
    Tränen schossen aus ihren Augen wie ein Quell zwischen Felsen.
    »Ich wünschte, du könntest sehen, wie du mich jetzt anschaust, Severian. Nein, ich weiß nicht, was draufsteht. Es ist nur ... Hast du noch nie gehört, daß manche Frauen das Zweite Gesicht haben? Vorahnungen? Um Dinge wissen, die sie unmöglich haben erfahren können?«
    Das Verlangen nach ihr war fast. weg. Gleichzeitig erschrocken und zornig, obwohl ich keine Erklärung dafür hatte, entgegnete ich: »Wir haben eine Gilde solcher Frauen, unsrer Schwestern, in der Zitadelle. Aber die sehen ganz anders aus als du.«
    »Ich weiß, ich bin keine solche. Aber gerade deswegen mußt du tun, was ich sage. Davon, daß ich in meinem Leben Dinge vorausgeahnt habe, kann keine Rede sein, jedoch ist mir jetzt so. Siehst du denn nicht, daß dahinter etwas so Wahres und Wichtiges stecken muß, daß du es nicht in den Wind schlagen kannst und darfst? Verbrenne den Zettel!«
    »Man will mich warnen, und du willst nicht, daß ich es lese. Ich habe dich gefragt, ob der Septentrion dein Liebhaber sei. Du hast verneint, und ich habe dir geglaubt.«
    Sie fing zu sprechen an, aber ich unterbrach sie.
    »Ich glaube dir immer noch. Deine Stimme hat aufrichtig geklungen. Dennoch versuchst du, mich irgendwie zu hintergehen. Sag mir jetzt, daß dem nicht so ist! Sag mir, daß du nur zu meinem Vorteil handelst und nichts anderes im Schilde führst!«
    »Severian ...«
    »Sag's mir!«
    »Severian, wir sind uns heute früh begegnet. Ich kenne dich kaum, und du kennst mich kaum. Was hast du zu erwarten? Ich habe dir hie und da zu helfen versucht. Auch jetzt will ich dir helfen.«
    »Zieh dich an!« Ich zog den Zettel unter dem Tablett hervor. Sie stürmte gegen mich an, aber es war nicht schwer, sie mit einer Hand abzuhalten. Der Zettel war mit einer Kielfeder mühsam bekritzelt; im Dämmerlicht konnte ich nur ein paar Wörter entziffern.
    »Ich hätte dich ablenken und ihn ins Feuer werfen können. Das hätt' ich tun sollen. Severian, laß mich los ...«
    »Sei still!«
    »Ich hab' ein Messer gehabt, erst letzte Woche. Eine Miserikordie mit einem Griff aus Efeuholz. Da wir Hunger hatten, versetzte Agilus sie. Wenn ich sie noch hätte, könnte ich dich jetzt erdolchen!«
    »Du hättest das Messer in deinem Gewand, und dein Gewand liegt dort drüben am Boden.« Ich gab ihr einen Schubs, daß sie rückwärts taumelte (sie hatte soviel Wein im Magen, daß nicht nur mein Stoß daran schuld war) und auf dem Segeltuchstuhl landete. Dann ging ich mit dem Zettel an eine Stelle, wo das letzte Sonnenlicht durch das

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