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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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habe. Der Gyoll wälzt sich noch durch meine Stadt Nessus; der Botanische Garten mit seinen Facetten glitzert noch in der Sonne und birgt in seinen Mauern jene wunderlichen Gehege, in denen jeweils eine Stimmung für alle Zeit eingefangen ist. Wenn ich an die kurzlebigen Begegnungen in meinem Leben denke, fallen mir dabei wohl verschiedene Männer und Frauen ein. Aber auch ein paar Häuser, von denen das Gasthaus am Rande des Blutackers an erster Stelle steht.
    Wir waren den ganzen Nachmittag durch breite Alleen und enge Gassen gewandert, gesäumt von Gebäuden, die allesamt aus Stein oder Ziegel waren. Schließlich gelangten wir zu Anwesen, die gar keine Anwesen schienen, da keine Villa eines Beglückten in ihrer Mitte stand. Ich weiß noch, daß ich Agia auf ein sich zusammenbrauendes Unwetter hingewiesen habe – ich spüre die drückende Schwüle und sehe einen finsteren Streifen entlang des Horizonts.
    Sie hat mich ausgelacht. »Was du siehst und spürst, ist nichts weiter als die Stadtmauer. So ist es hier immer. Die Mauer staut die Luft.«
    »Diese schwarze Wand? Sie reicht halb in den Himmel.«
    Agia lachte abermals, aber Dorcas drückte sich an mich. »Ich fürchte mich, Severian.«
    Agia hatte sie gehört. »Vor der Mauer? Sie tut dir nichts, wenn sie nicht gerade auf dich fällt, allerdings hat sie schon ein Dutzend Zeitalter überdauert.« Ich sah sie fragend an, und sie ergänzte: »Zumindest schaut sie so alt aus. Vielleicht ist sie noch älter. Wer weiß?«
    »Sie vermauert die halbe Welt. Reicht sie um die ganze Stadt?«
    »Per Definition umschließt sie die Stadt, obschon es im Norden, wie man sagt, freies Gelände und im Süden meilenweite Ruinenfelder gibt, wo niemand wohnt. Doch nun schau zwischen diese Pappeln. Siehst du das Gasthaus?«
    Ich sah nichts und sagte das.
    »Unter dem Baum. Du hast mir ein Essen versprochen, und hier will ich's haben. Uns bleibt gerade noch Zeit für ein Mahl, bevor du dem Septentrion gegenübertreten mußt.«
    »Nicht jetzt«, sagte ich. »Ich will gern mit dir speisen, wenn das Duell vorüber ist. Ich treffe alle Vorkehrungen, wenn du willst.« Ich konnte noch immer kein Gebäude entdecken, allerdings war mir nicht entgangen, daß an dem Baum etwas seltsam war: eine Stiege aus rohem Holz rankte sich am Stamm empor.
    »Tu das. Wenn du umkommst, lade ich den Septentrion ein – und wenn er nicht will, den bettelarmen Seemann, der mich ständig einlädt. Wir trinken auf dein Wohl.«
    Ein Licht brannte hoch oben in der Laubkrone, und ein Pfad führte zur Stiege. Davor sah ich auf einem bemalten Schild eine weinende Frau, die ein blutiges Schwert zog. Ein ungeheuer dicker Mann mit einem Schurz trat aus dem Schatten, stellte sich daneben und erwartete uns händereibend. Nun hörte ich auch gedämpftes Töpfeklappern.
    »Abban, zu Diensten«, begrüßte uns der dicke Mann. »Was wünscht Ihr?« Ich bemerkte, wie er nervös die Averne im Auge behielt.
    »Ein Mahl für zwei, angerichtet ...« Ich blickte zu Agia.
    »Zur neuen Wache.«
    »Gut, gut. Aber es geht nicht so bald, Sieur. Die Zubereitung dauert ihre Zeit. Es sei denn, Ihr begnügtet Euch mit kaltem Braten, Salat und einer Flasche Wein?«
    Agia wurde ungehalten. »Wir bekommen einen Vogel vom Rost – einen jungen.«
    »Wie Ihr wollt. Die Köchin wird sich sofort daran machen. Nachdem der Sieur seinen Gegner besiegt hat, könnt Ihr Euch mit Braten laben, bis der Vogel gar ist.« Agia nickte. Ein rascher Blick, den sie mit ihm austauschte, gab mir die Gewißheit, daß die beiden sich kannten. »Wenn Ihr noch Zeit habt«, fuhr der Wirt fort, »und mittlerweile eintreten wolltet, könnte ich warmes Wasser und einen Schwamm für diese andere Dame anbieten, und vielleicht möchten die Herrschaften sich auch mit einem Glas Medoc und etwas Gebäck stärken?«
    Ich wurde plötzlich gewahr, daß ich seit dem Frühstück mit Baldanders und Dr. Talos bei Morgengrauen gefastet hatte und daß wohl auch Agia und Dorcas den ganzen Tag nichts gegessen hatten. Als ich nickte, führte uns der Wirt über die breite, rustikale Treppe empor; der Stamm, um den sie sich wand, hatte einen Umfang von zehn Schritt.
    »Habt Ihr uns schon einmal besucht, Sieur?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wollte gerade fragen, was für ein Haus das sei. Hab' so was noch nie gesehen.«
    »Werdet Ihr auch nirgendwo sonst, Sieur. Dennoch solltet Ihr uns kennen – unsere Küche ist berühmt, und das Speisen im Freien macht einem den besten

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