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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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dichte Laubwerk fiel.
    Die Frau bei dir war schon einmal hier.
    Trau ihr nicht. Trudo sagt, der Mann sei ein Folterer.
    Du bist meine wiedergekehrte Mutter.

Die Fanfare
    Ich hatte gerade noch Zeit, die Worte aufzunehmen, als Agia vom Stuhl aufsprang, mir den Zettel aus der Hand riß und ihn über den Rand der Plattform warf. Einen Moment lang stand sie vor mir und blickte von meinem Gesicht zu Terminus Est, das wieder zusammengefügt an einer Seite des Sofas lehnte. Offenbar befürchtete sie, ich würde ihr den Kopf abschlagen und ihn hinter dem Zettel her werfen. Als ich nichts unternahm, sagte sie: »Hast du ihn gelesen? Severian, sag, daß du's nicht hast!«
    »Ich habe ihn gelesen, aber nicht verstanden.«
    »Dann denk nicht darüber nach!«
    »Sei doch jetzt still! Er war nicht einmal für mich bestimmt. Vielleicht war er für dich gedacht, aber warum wurde er dann an eine Stelle gelegt, wo nur ich ihn sehen konnte? Agia, hast du eigentlich ein Kind? Wie alt bist du?«
    »Dreiundzwanzig. Das ist schon recht alt, aber nein, ich hab keins. Ich zeig' dir meinen Bauch, wenn du mir nicht glaubst.«
    Ich rechnete nach, mußte aber feststellen, daß ich zu wenig über die Reife von Frauen wußte. »Wann hattest du deine erste Regel?«
    »Mit dreizehn. Wäre ich damals schwanger geworden, hätte ich mit vierzehn geboren. Ist es das, was du herausfinden willst?«
    »Ja. Und das Kind wäre jetzt neun. Wäre es ein gescheites Kind, könnte es eine solche Nachricht geschrieben haben. Möchtest du wissen, was da gestanden hat?«
    »Nein!«
    »Wie alt, meinst du, ist Dorcas? Achtzehn? Neunzehn vielleicht?«
    »Du solltest nicht darüber nachdenken, Severian. Ganz egal, was es gewesen ist.«
    »Ich will jetzt nicht mit dir scherzen. Du bist eine Frau – wie alt?«
    Agia schürzte die vollen Lippen. »Ich würde sagen, dein graues, geheimnisvolles Dämchen ist sechzehn oder siebzehn. Fast noch ein Kind.«
    Wenn man über abwesende Personen spricht, so lockt sie das manchmal an wie Gespenster, wie wohl jeder schon einmal bemerkt hat. So war es auch jetzt. Ein Flügel des Wandschirms bewegte sich zurück, und hervor trat Dorcas, nicht mehr das schmutzige Wesen, an das wir uns gewöhnt hatten, sondern ein vollbusiges, schlankes Mädchen von besonderer Anmut. Ich habe schon eine weißere Haut als die ihrige gesehen, aber das ist keine gesunde Blässe gewesen. Dorcas schien zu strahlen. Vom Dreck befreit, war ihr Haar goldblond; ihre Augen waren wie immer: tiefblau wie die Wasser des Weltflusses Uroboros aus meinem Traum. Als sie bemerkte, daß Agia nackt war, wollte sie sich wieder hinter den schützenden Schirm zurückziehen, aber die beleibte Magd versperrte ihr den Weg.
    Agia sagte: »Ich ziehe lieber meine Fetzen wieder an, bevor dein Liebchen in Ohnmacht fällt.«
    Dorcas murmelte: »Ich sehe nicht hin.«
    »Ist mir egal«, versetzte Agia, wandte uns aber, wie mir auffiel, beim Ankleiden den Rücken zu. Zur Blätterwand sprechend, fügte sie hinzu:
    »Wir müssen jetzt wirklich aufbrechen, Severian. Jeden Augenblick wird die Fanfare ertönen.«
    »Und wird was bedeuten?«
    »Das weißt du nicht?« Sie kehrt sich uns zu. »Wenn die Zinnen der Stadtmauer scheinbar den Rand der Sonnenscheibe berühren, ertönt eine Fanfare – die erste – auf dem Blutacker. Manche meinen, dies geschehe nur, um die Kämpfe dort zu regeln, obschon es nicht so ist. Es ist ein Zeichen für die Wächter innerhalb der Mauer, die Tore zu schließen. Es ist zugleich das Signal für den Kampfbeginn, und wenn du dann zur Stelle bist, wird damit angefangen. Wenn die Sonne unter den Horizont gesunken ist und die Nacht richtig anbricht, wird von der Mauer der Zapfenstreich geblasen. Das bedeutet, die Tore werden nicht mehr geöffnet, selbst wenn jemand besondere Passierscheine vorweisen kann, und jeder, der herausgefordert hat oder worden ist und bis dahin nicht auf dem Blutacker erschienen ist, der gilt als Verweigerer. Er kann überall, wo man ihn antrifft, erschlagen werden, und ein Waffenträger oder Beglückter kann Meuchelmörder dingen, ohne seine Ehre zu beflecken.«
    Die Magd, die an der Treppe gestanden und all dem nickend gelauscht hatte, trat zur Seite, für ihren Herrn, den Wirt, Platz machend.
    »Sieur«, sagte er, »wenn Ihr wirklich eine tödliche Verabredung habt, muß ich ...«
    »Gerade hat meine Freundin es gesagt«, unterbrach ich ihn. »Wir müssen gehen.«
    Dorcas fragte daraufhin, ob sie etwas Wein haben könnte. Ein wenig erstaunt

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