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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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rufe ›Severian vom Matachin-Turm‹!«
    »Ich bin nicht deine Dienerin. Schrei selber, wenn du es ausgeschrien haben willst.«
    »Cadroe von den Siebzehn Steinen!«
    »Schau mich nicht so an, Severian. Wären wir nur nicht hergekommen! Severian! Severian der Folterer! Severian von der Zitadelle! Vom Turm der Qual! Vom Tode! Der Tod ist gekommen!«
    Mit einem Schlag unters Ohr streckte ich sie mitsamt der Averne zu Boden.
    Dorcas packte mich am Arm. »Das hättest du nicht tun dürfen, Severian.«
    »Ich hab' sie nur mit der flachen Hand getroffen. Es wird ihr nichts fehlen.«
    »Sie wird dich noch mehr hassen.«
    »Haßt sie mich denn?«
    Dorcas gab keine Antwort, und auch ich vergaß zunächst, daß ich diese Frage gestellt hatte – in einiger Entfernung hatte ich in der Menge eine Averne entdeckt.
    Die Kampfesstätte war ein ebener Kreis von etwa dreißig Schritt Durchmesser mit einem Zaun und zwei sich gegenüberliegenden Eingängen.
    Der Ephore rief: »Die Adjudikation der Averne wurde angeboten und angenommen. Dies ist der Ort. Die Zeit sei jetzt. Es bleibt nur noch zu entscheiden, ob Ihr Euch entgegentretet, wie Ihr seid, nackt oder sonstwie. Was sagt Ihr?«
    Ehe ich antworten konnte, rief Dorcas: »Nackt. Der Mann trägt eine Rüstung.«
    Der bizarre Helm des Septentrions schwang verneinend hin und her. Wie bei den meisten Kavalleriehelmen waren die Ohren ausgespart, um das Kampfgeschehen und die zugerufenen Anweisungen der Befehlshaber besser hören zu können; im Schatten hinter dem Backenstück glaubte ich ein schmales schwarzes Band zu bemerken und überlegte, wo ich so etwas schon einmal gesehen hatte.
    Der Ephore fragte: »Ihr lehnt ab, Hipparch?«
    »Die Männer meines Landes gehen nur im Beisein von Frauen nackt.«
    »Er trägt Rüstung«, rief Dorcas abermals. »Dieser Mann hat nicht einmal ein Hemd an.« Ihre Stimme, die immer so sanft gewesen war, hallte wie eine Glocke durch die Dämmerung.
    »Ich werde sie ablegen.« Der Septentrion warf seinen Umhang zurück und hob seinen Panzerhandschuh an die Schulter seiner Rüstung. Sie glitt von seinem Leib und fiel vor seine Füße. Ich hatte einen so mächtigen Brustkorb wie den eines Meister Gurloes erwartet, aber was ich zu sehen bekam, war schmaler als der meinige.
    »Auch den Helm!«
    Wieder schüttelte der Septentrion den Kopf, und der Ephore fragte:
    »Eure Weigerung ist endgültig?«
    »Ja.« Nach einem fast unmerklichen Zögern fügte er hinzu: »Ich kann nur sagen, daß ich angewiesen bin, ihn nicht abzunehmen.«
    Der Ephore wandte sich an mich. »Wir wollen, keiner von uns, glaube ich, den Hipparchen in eine peinliche Lage versetzen, geschweige denn die Person – ich sage nicht, wer das ist –, in deren Auftrag er handelt. Ich denke, es wäre am klügsten, Euch, Sieur, einen Ausgleich einzuräumen. Was habt Ihr vorzuschlagen?«
    Agia, die seit meiner Ohrfeige geschwiegen hatte, sagte: »Lehne den Kampf ab, Severian! Oder behalte dir den Vorteil vor, bis du ihn brauchst!«
    Dorcas, welche die Bänder aus Lumpen löste, mit denen die Averne befestigt war, sagte gleichfalls: »Verweigere den Kampf!«
    »Ich bin so weit gegangen, jetzt mache ich nicht kehrt.«
    Der Ephore fragte nachdrücklich: »Habt Ihr Euch entschlossen, Sieur?«
    »Ich denke, ja.« Meine Maske steckte in meiner Gürteltasche. Wie alle, die in der Zunft Verwendung fanden, war sie aus dünnem, mit einem knöchernen Gerippe verstärktem Leder. Ob sie den geworfenen Avernenblättern standhalten konnte, vermochte ich nicht zu sagen – aber es erfüllte mich mit Genugtuung, das erschreckte Aufatmen der Zuschauer zu hören, als ich sie blitzschnell hervorzog.
    »Seid Ihr nun bereit? Hipparch? Sieur? Sieur, Ihr müßt Euch von jemand das Schwert halten lassen. Bis auf die Averne ist keine Waffe erlaubt.«
    Ich sah mich nach Agia um, aber sie war in der Menge verschwunden. Dorcas übergab mir die tödliche Blume, und ich reichte ihr mein Terminus Est.
    »Beginnt!«
    Ein Blatt schwirrte knapp an meinem Ohr vorbei. Der Septentrion näherte sich mit unregelmäßigen Schritten; er trug seine Averne unterhalb des niedrigsten Blattes in der Linken und streckte die Rechte vor, als wollte er mir die meine entwinden. Mir fiel ein, daß Agia mich davor gewarnt hatte, also hielt ich sie so dicht an mich, wie ich mich getraute.
    Fünf Atemzüge lang bewegten wir uns im Kreise. Dann hieb ich nach seiner ausgestreckten Hand. Er konterte mit seiner Pflanze. Ich hob die meine wie ein Schwert über

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