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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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alten Sektor kommt, gibt's ein paar neue Männer für sie. Auch ein paar neue Mädchen kommen mit, während andere gehen, so daß ein jeder die Möglichkeit hat abzuspringen, wenn er will. Übrigens, wie ich hörte, ist gestern abend einer von euch Scharfrichtern hergebracht worden, der allerdings halb tot war. Hast du ihn schon gesehen?«
    Ich verneinte.
    »Eine unserer Patrouillen meldete ihn, und als der Chiliarch davon erfuhr, schickte er sie zurück, um ihn zu holen, da feststand, daß wir demnächst einen brauchen. Sie schwören, sie hätten ihm kein Haar gekrümmt, mußten ihn jedoch auf einer Bahre herschaffen. Ich weiß nicht, ob er ein Kamerad von dir ist, aber bestimmt wirst du ihn dir ansehn wollen.«
    Ich versprach ihm, das zu tun, und zog mich zurück, nachdem ich den Soldaten für ihre Gastfreundschaft gedankt hatte. Ich machte mir Sorgen um Dorcas, und die Fragerei, hinter der sicher keine böse Absicht steckte, hatte mich nervös gemacht. Es gab so vieles, was ich nicht erklären konnte – wie ich mir zum Beispiel die Verwundung zuzog, falls ich gestanden hätte, daß ich der Mann war, der am Vorabend hergebracht worden war, und woher Dorcas stamme. Daß mir diese Dinge selbst nicht richtig klar waren, bekümmerte mich mindestens ebenso stark, und ich fühlte mich, wie wir uns immer dann fühlen, wenn ein ganzes Kapitel unseres Lebens im Dunkeln liegt, wenn zwar die letzte Frage noch ziemlich weit von jedem Tabu entfernt gewesen ist, die nächste aber zum Kern der Sache vorzustoßen droht.
    Dorcas war wach und stand bei meinem Bett, wo jemand eine Schale dampfende Suppe abgestellt hatte. Sie war so erfreut, mich zu sehen, daß ich mich glücklich fühlte, als wäre die Freude so ansteckend wie die Pest. »Ich hab' gedacht, du seist tot«, sagte sie. »Du warst verschwunden, und deine Kleider waren weg, so daß ich glaubte, man hätte sie geholt um dich darin zu begraben.«
    »Mir fehlt nichts«, erwiderte ich. »Was geschah gestern abend?« Dorcas wurde sofort ernst. Ich forderte sie auf, sich neben mich aufs Bett zu setzen, das mitgebrachte Brot zu essen und die Suppe zu trinken, während sie erzählte. »Du weißt sicher noch, wie du gegen diesen Mann mit dem eigenartigen Helm gekämpft hast. Du setztest eine Maske auf und tratest gegen ihn in der Arena an, obwohl ich dich anflehte, es nicht zu tun. Beinahe sofort traf er dich mit einem Blatt in die Brust, und du stürztest. Das Blatt, ein abscheuliches Ding wie ein Plattwurm aus Eisen, steckte halb in deinem Leib und färbte sich rot, als es dein Blut saugte.
    Dann fiel es ab. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es kam mir so vor, als wäre alles, was ich sah, falsch. Aber es ist echt gewesen – ich weiß genau, was ich gesehen habe. Du standest wieder auf und schautest ... Ich weiß nicht, wie. Als ob du verloren wärest oder teilweise geistesabwesend. Ich dachte, er würde dich auf der Stelle töten, aber der Ephore trat dazwischen und sagte, du müssest erst wieder im Besitz deiner Averne sein. Die seine war still, wie es die unsere gewesen war, als du sie an diesem grauenhaften Ort gepflückt hattest; dann hatte die deine zu zappeln begonnen und öffnete ihre Blüte – ich dachte, es wäre bereits voll entfaltet, dieses weiße Ding mit den krausen Blumenblättern, aber ich hatte wohl zuviel an Rosen gedacht, denn es war noch nicht halb aufgeblüht. Es verbarg sich darin noch etwas anderes, ein Gesicht, wie Gift es hätte, falls Gift ein Gesicht hätte.
    Du bemerktest das nicht. Als du die Averne aufhobst, neigte sie sich dir zappelnd zu – ganz langsam, als wäre sie erst halb wach. Der andere Mann hingegen, der Hipparch, traute seinen Augen nicht, als er das alles sah. Er starrte dich an. Dieses Weib Agia rief ihm etwas zu. Mit einemmal drehte er sich um und stürmte davon. Den Zuschauern war das nicht recht, denn sie waren gekommen, um jemand sterben zu sehen, also versperrten sie ihm den Fluchtweg, woraufhin er ...«
    Ihre Augen standen voll Tränen; sie wandte das Gesicht ab, damit ich sie nicht sähe. Ich sagte: »Er peitschte sich mit der Averne eine Gasse frei und tötete dabei wohl einige. Was geschah dann?«
    »Er hat nicht nur damit zugeschlagen, die Averne hat wie eine Schlange zugestoßen, nachdem die ersten beiden Opfer getroffen waren. Diejenigen, die von den Blättern geschnitten wurden, starben nicht sofort; einige rannten schreiend umher, stürzten hin, sprangen wieder auf, liefen weiter, als wären sie blind,

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