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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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den Kopf und entdeckte, daß diese Haltung ideal war – der ungeschützte Stiel blieb dadurch außer Reichweite meines Gegners, und ich konnte mit der ganzen Pflanze beliebig zuschlagen, gleichzeitig aber mit der Rechten Blätter abreißen.
    Diese jüngste Entdeckung probierte ich sofort aus, indem ich ein Blatt abbrach und es ihm ins Gesicht schleuderte. Trotz des abschirmenden Helmes duckte er sich, und die Menge hinter ihm stob auseinander, um dem Geschoß auszuweichen. Ich ließ ein zweites folgen, dann ein drittes, das im Flug mit einem von ihm zusammenstieß.
    Das hatte eine erstaunliche Wirkung. Anstatt die Schwungkraft des anderen abzufangen und gemeinsam niederzufallen, wie es bei zwei toten Messerklingen der Fall gewesen wäre, schienen sich die Blätter zu krümmen und zu winden, umschlangen sich der Länge nach und hackten mit ihren Spitzen so schnell aufeinander ein, daß sie, noch ehe sie eine Elle an Höhe verloren hatten, nur noch zerrissene schwarzgrüne Fetzen waren, die, in hundert Farben schillernd, wie Kreisel zu Boden wirbelten T..
    Etwas oder jemand schmiegte sich an meinen Rücken. Mir war, als stünde ein Unbekannter dicht hinter mir und lehnte sich mit dem Kreuz leicht gegen das meine. Da ich fror, war ich dankbar für die Wärme seines Körpers.
    »Severian!« Das war Dorcas' Stimme, die aber aus einiger Entfernung an mein Ohr drang.
    Ich hörte Glocken läuten. Die Farben, die ich den sich schlingenden Blättern zugeschrieben hatte, tauchten im Himmel auf, wo sich unter der Abendröte ein Regenbogen entfaltete. Die Welt wurde ein großes Osterei in allen Farbtönen der Palette. Dicht bei meinem Kopf fragte eine Stimme: »Ist er tot?« und jemand erwiderte nüchtern: »Das war's gewesen. Diese Dinger wirken immer tödlich. Es sei denn, du willst zusehen, wie man ihn fortschleppt?«
    Der Septentrion (dessen Stimme mir eigenartig bekannt vorkam) sagte: »Als Sieger erhebe ich Anspruch auf seine Kleidung und Waffen. Gib mir dieses Schwert.«
    Ich setzte mich auf. Ein paar Schritte vor meinen Stiefeln zappelten die Blattfetzen noch immer schwach. Dahinter stand der Septentrion mit seiner Averne. Ich holte Luft, um zu fragen, was geschehen sei, als mir etwas von der Brust in den Schoß fiel; es war ein Blatt mit blutbedeckter Spitze.
    Kaum hatte er mich gesehen, schwenkte der Septentrion seine Averne und holte zum Schlag aus. Der Ephore trat mit ausgebreiteten Armen zwischen uns. Vom Zaun aus riefen einige Zuschauer: »Sachte! Sachte, Soldat! Laß ihn aufstehen und die Waffe nehmen!«
    Meine Beine wollten mich kaum tragen. Benommen blickte ich mich nach meiner Averne um und fand sie schließlich nur, weil sie zu Füßen von Dorcas lag, die mit Agia rang. Der Septentrion rief: »Er sollte tot sein!« Der Ephore entgegnete: »Er ist's nicht, Hipparch. Sobald er wieder im Besitz seiner Waffe ist, könnt Ihr den Kampf fortsetzen.«
    Ich griff nach dem Stiel meiner Averne und glaubte für einen Moment, den Schwanz eines kaltblütigen, aber lebendigen Tieres gepackt zu haben. Er schien sich in meiner Hand zu krümmen, und sein Laub rasselte. Agia schrie: »Sakrileg!« und innehaltend sah ich zu ihr, woraufhin ich die Averne aufhob und mich dem Septentrion zukehrte.
    Seine Augen lagen im Schatten seines Helmes, aber in jeder Faser seines Körpers war Entsetzen zu erkennen. Zunächst schien sein Blick rasch von mir zu Agia zu wandern. Dann wirbelte er herum und floh durch die Öffnung im Zaun am Ende der Arena. Die Schaulustigen standen ihm im Weg, so daß er seine Averne wie eine Geißel benutzte und damit nach links und rechts schlug. Ein Schrei ertönte, dann ein Crescendo von Schreien. Meine Averne zog mich nach hinten oder vielmehr – meine Averne war verschwunden, und jemand hatte mich bei der Hand gepackt. Dorcas. Irgendwo in großer Ferne kreischte Agia: »Agilus!« und eine andere Frau rief: »Laurentia vom Haus der Harfen!«

Scharfrichter
    Ich erwachte am nächsten Morgen in einem Lazarett, einem langen Saal mit hoher Decke, in dem wir, die Kranken, die Verletzten, in schmalen Betten lagen. Ich war nackt, und während der Schlaf (oder vielleicht war's der Tod) mir die Lider schwer machte, betastete ich mit den Händen lange meinen Körper nach Wunden, wobei ich mich fragte – der Gedanke fesselte mich wie ein wunderliches Lied –, wie ich ohne Kleidung und Geld leben könnte, wie ich Meister Palaemon den Verlust von Schwert und Mantel erklären könnte.
    Denn ich war überzeugt, daß

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