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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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war, als ich den armen Triskele blutüberströmt vor dem Bärenturm fand. Das Leben ist schließlich nichts Hohes und in vieler Hinsicht das Gegenteil von Reinheit. Wenn ich auch noch nicht viel älter bin, so bin ich doch klüger und weiß, daß es besser ist, alles zu haben, Hohes und Niedriges, als nur Hohes.
    Falls also der Chiliarch nicht beschlösse, Gnade walten zu lassen, würde ich morgen Agilus hinrichten. Keiner kann sagen, was das bedeutet. Der Körper ist keine Zellenkolonie (ich mußte immer an unsere Oubliette denken, wenn Meister Palaemon davon sprach). In zwei Teile zertrennt, stirbt er. Aber es gibt keinen Grund, die Vernichtung einer Zellenkolonie zu betrauern: eine solche Kolonie stirbt jedesmal, wenn ein Leib Brot in den Backofen wandert. Wenn ein Mensch nicht mehr als eine solche Kolonie ist, ist er nichts; aber wir wissen instinktiv, daß er mehr ist. Was also geschieht mit dem Teil, der mehr ist?
    Vielleicht stirbt er ebenso, wenn auch langsamer. Es gibt eine ganze Reihe von Häusern, Schächten und Brücken, in denen es spukt; dennoch habe ich mir sagen lassen, daß in solchen Fällen, bei denen es sich um einen menschlichen, nicht um einen Elementargeist handelt, die Erscheinungen immer seltener werden und schließlich ganz aufhören. Die Geschichtsschreiber berichten, daß der Mensch in grauer Vorzeit nur diese eine Welt Urth kannte, keine Angst vor den darauf lebenden Tieren hatte und freizügig von diesem Kontinent in den Norden reiste; aber nicht einmal die Geister solcher Menschen wurden je gesehn.
    Vielleicht stirbt er sofort – vielleicht streift er auch durch die Konstellationen. Diese Urth ist sicherlich weniger als ein Dorf im unermeßlichen Universum. Und wenn jemand in einem Dorf lebt und die Nachbarn sein Haus anzünden, verläßt er den Ort, falls er nicht darin umkommt. Allerdings müssen wir dann auch fragen, wie er hergekommen ist.
    Meister Gurloes, der sehr viele Todesurteile vollstreckte, hat oft gesagt, nur ein Tor sorge sich, daß ihm ein Fehler unterliefe: etwa im Blut auszugleiten oder nicht zu merken, daß der Klient eine Perücke trage und den Kopf am Haarschopf hochheben zu wollen. Die größere Gefahr sei, daß man die Nerven verlöre und keine ruhige Hand hätte, was einen ungeschickten Schlag und das Gefühl von Vergeltungssucht mit sich brächte, so daß aus dem Rechtsakt ein bloßer Racheakt würde. Bevor ich wieder einschlief, versuchte ich, mich gegen beides zu stählen.

Der Schatten des Folterers
    Es ist Teil unseres Amtes, ohne unseren Gildenmantel, aber mit aufgesetzter Maske und gezücktem Schwert auf dem Blutgerüst zu stehen, lange bevor der Klient herbeigeschafft wird. Manche sagen, dies solle die immer wache Allgegenwart von Recht und Gerechtigkeit symbolisieren, aber ich glaube, der eigentliche Grund ist der, dem Volk eine Schau darzubieten und ihm das Gefühl zu geben, daß bald etwas passiere.
    Eine Volksmenge ist nicht die Summe der einzelnen Menschen, die sie bilden. Vielmehr ist sie eine tierische Spezies ohne Sprache und richtiges Bewußtsein, die mit dem Zusammenscharen ins Leben gerufen wird und mit der Auflösung wieder daraus scheidet. Vor dem Justizpalast hatte ein Ring lanzenbewehrter Dimarchi um das Schafott Aufstellung genommen, und die Pistolen, die ihre Offiziere trugen, hätten an die fünfzig oder sechzig Leute töten können, ehe man sie ihnen hätte entreißen und sie auf dem Steinpflaster hätte überwältigen und töten können. Dennoch ist es besser, einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit und ein offenes Machtsymbol zur Schau zu stellen.
    Die Menschen, die gekommen waren, um der Hinrichtung beizuwohnen, waren keineswegs alle oder zum Großteil arm. Der Blutacker liegt in der Nähe einer der besseren Wohngegenden der Stadt, und ich sah eine Menge roter und gelber Seidengewänder und Gesichter, die am Morgen mit parfümierter Seife gewaschen worden waren. (Dorcas und ich hatten uns am Brunnen im Hof frisch gemacht.) Solche Menschen reagieren viel langsamer auf Gewalt, stellen aber, sind sie erst einmal aufgehetzt, eine viel größere Bedrohung dar, da sie es nicht gewohnt sind, eingeschüchtert zu werden und ungeachtet der Aufwiegler viel mehr Mut haben.
    So stand ich also, die Hände auf das Heft von Terminus Est gestützt, drehte mich bald in die eine, bald in die andere Richtung und rückte den Block zurecht, so daß mein Schatten über diesen fiele. Der Chiliarch war nicht zu sehen, obschon er, wie ich später entdeckte, von

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