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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ich sie in die Gruppe aufgenommen und ihr ein Viertel der Einnahmen zuerkannt? Wenn wir zwei Frauen haben, muß nicht mehr so viel umgeschrieben werden.«
    »Aber sie geht doch mit Severian, du Narr. Sagte er heute früh nicht, er müsse umkehren und etwas mit den ...« Jolenta kehrte sich mir zu. Ihr Zorn machte sie hübscher denn je. »Wie hast du sie genannt? Pelissen?«
    »Pelerinen«, berichtigte ich. Kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, lenkte ein Mann, der auf einem Merychippus ritt, sein Tierchen vom Rand des Gewühls aus Menschen und Vieh zu uns herüber.
    »Wenn ihr die Pelerinen sucht«, sagte er, »habt ihr den gleichen Weg wie ich – zum Tor hinaus, nicht stadtwärts. Sie zogen gestern abend über die Straße.«
    Ich ging schneller, um mich am Hinterzwiesel seines Sattels festhalten zu können, und fragte, ob er sich sicher sei.
    »Ich wurde gestört, als die anderen Gäste meiner Herberge auf die Straße eilten, um ihren Segen zu erbitten. Ich blickte zum Fenster hinaus und sah ihre Prozession. Diener trugen von Kerzen erleuchtete Votivtafeln, allerdings umgekehrt, und die Priesterinnen selbst hatten sich die Gewänder zerrissen.« In sein langes, müdes, lustiges Gesicht grub sich ein schiefes Grinsen. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, aber glaube mir, es war ein eindeutig fluchtartiger Abzug – sprach sozusagen der schmausende Bär und meinte die Gäste der Landpartie.«
    Dr. Talos flüsterte Jolenta zu: »Unser Engel der Pein und deine Ersatzspielerin werden noch eine Weile bei uns bleiben, denke ich.«
    Er hatte nur zum Teil recht, wie sich herausstellen sollte. Nun wird es euch jedoch, die ihr die Mauer vielleicht schon gesehen und durch das eine oder andere ihrer Tore passiert habt, gewiß verdrießen, wenn ich ein paar Worte darüber verliere, ehe ich mit der Geschichte meines Lebens fortfahre, aber ich kann um meines eigenen Friedens willen nicht daran vorbei.
    Von ihrer Höhe habe ich bereits gesprochen. Es gibt wohl wenige Vögel, welche sie überfliegen: Der Adler und der große Teratornis der Berge, die Wildgänse und ihre Verwandten, aber andere kaum. So hoch stellte ich sie mir vor, als wir an ihrem Fuße angelangt waren. Schon seit Meilen weithin sichtbar, konnte nun keinem, der das Bauwerk sah (die Wolken glitten über seine Fassade wie Wellen auf einem Teich), die außergewöhnliche Höhe entgehen. Sie ist aus schwarzem Metall wie die Mauern der Zitadelle; aus diesem Grunde hat sie auf mich nicht so grauenhaft gewirkt, wie zu erwarten gewesen wäre – ich habe in der Stadt nur Häuser aus Stein und Ziegel gesehen, also ist mir die Begegnung mit dem von Kindheit an vertrauten Material durchaus genehm gewesen.
    Allerdings fühlte ich mich in eine Mine versetzt, als wir ins Tor traten, und schauderte unwillkürlich. Mir fiel auf, daß es bis auf Dr. Talos und Baldanders jedem ähnlich erging. Dorcas drückte meine Hand stärker, und Hethor senkte den Kopf. Jolenta schien zu überlegen, ob der Doktor, mit dem sie sich vorhin noch gezankt hatte, ihr Schutz bieten könnte; aber dieser kümmerte sich nicht darum, als sie ihn am Ärmel zupfte, sondern stolzierte, mit seinem Stock auf dem Pflaster klappernd, einher wie draußen im Sonnenschein, woraufhin sie sich von ihm abkehrte und zu meiner Überraschung den Steigbügelriemen des Mannes auf dem Merychippus ergriff.
    Die Wände des Tores strebten zu beiden Seiten hoch empor. In weiten Abständen waren Fenster aus einem glasähnlichen Material von ungewohnter Dicke und Klarheit eingelassen. Hinter diesen Fenstern erblickten wir Männer und Frauen und Kreaturen, die weder Mann noch Frau waren. Es handelte sich wohl um Cacogens – Wesen, denen die Averne das ist, was uns die Ringelblume oder Margarite ist. Wieder andere schienen uns Tiere zu sein, die zuviel Menschliches an sich hatten: gehörnte Köpfe beobachteten uns mit allzu klugen Augen und Münder, die offenbar sprachen, waren mit nagel- oder hakenartigen Zähnen versehen. Ich fragte Dr. Talos, was das für Kreaturen seien.
    »Soldaten«, antwortete er. »Die Panduren des Autarchen.«
    Jolenta, die in ihrer Angst eine ihrer Brüste fest gegen den Schenkel des Mannes auf dem Merychippus drückte, flüsterte: »Dessen Schweiß das Gold seiner Untertanen ist.«
    »In der Mauer, Doktor?« »Wie Mäuse. Obschon sie von beträchtlicher Dicke ist, ist sie überall wabenartig hohl – wie man mir gesagt hat. In den Gängen und Galerien leben unzählige Soldaten, die zu ihrer

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