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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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bei einer Auspeitschung.«
    Vor meinem geistigen Auge sah ich den Riesen traurig nicken.
    Jolenta war bestrebt, sich nicht lächerlich zu machen. Was ich nun schreibe, wird in der Tat lächerlich klingen, ist aber wahr. Ihr, meine Leser, lacht ruhig auf meine Kosten. Es kam mir damals nämlich in den Sinn, welches Glück ich hatte und seit dem Aufbruch von der Zitadelle stets gehabt habe. Dorcas war mir ein Freund – mehr als eine Geliebte, eine wahre Gefährtin, obschon wir uns erst ein paar Tage kannten. Die schweren Schritte des Riesen gemahnten mich an die vielen einsamen Wanderer, die allein durch die Welt ziehen müssen. Ich wußte jetzt (oder glaubte zumindest, es zu wissen), warum Baldanders sich Dr. Talos unterwarf, warum der muskelgewaltige Hüne sich allen Aufgaben beugte, die der rothaarige Mann ihm aufbürdete.
    Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mir jemand auf die Schulter klopfte. Es war Hethor, der uns wohl mit leisen Schritten eingeholt hatte. »Meister«, begann er.
    Ich bat ihn, mich nicht so zu nennen, und erklärte, ich sei nur ein Geselle unserer Zunft und brächte es vielleicht nie zum Meister.
    Er nickte ergebenst. Wenn er den Mund öffnete, waren seine Zahnlücken nicht zu übersehen. »Meister, wohin gehen wir?«
    »Zum Tor hinaus«, antwortete ich und dachte, ich hätte das nur gesagt, damit er sich hoffentlich Dr. Talos, nicht mir, anschlösse; in Wahrheit dachte ich dabei an die übernatürliche Schönheit der Klaue und wie wunderbar es wäre, sie nach Thrax mitzunehmen, anstatt damit in das Zentrum von Nessus zurückzukehren. Ich deutete zur Stadtmauer, die in der Ferne vor uns aufragte wie die Mauern einer gewöhnlichen Burg vor den Augen einer Maus. Sie war schwarz wie Gewitterwolken, und die Wolken des Himmels stauten sich an ihren Zinnen.
    »Ich trag' dein Schwert, Meister.«
    Sein Angebot schien ehrlich gemeint, aber ich besann mich darauf, daß Agia und ihr Bruder mir nur deswegen so übel mitgespielt hatten, weil sie mein Terminus Est begehrten. Mit allem Nachdruck entgegnete ich: »Nein. Nie und nimmer!«
    »Du tust mir leid, Meister, wenn ich sehe, wie schwer du dich damit tust. Es muß allerhand wiegen.«
    Ich erklärte, was auch stimmte, daß es leichter sei, als man meine, als wir um den flachen Hang eines Hügels kamen und etwa eine halbe Meile entfernt die kerzengerade Hauptstraße sahen, die zu einer Öffnung in der Mauer führte. Es herrschte dichter Verkehr aller Art, und angesichts der Mauer und des gewaltigen Tores wirkten die Menschen darauf wie kleine Würmchen und die Zugtiere wie Ameisen, die sich mit Krümeln abschleppten. Dr. Talos drehte sich um, bis er rückwärts ging, und deutete winkend auf die Mauer. Dies tat er so stolz, als hätte er sie selbst gebaut.
    »Einige von euch werden das noch nicht gesehn haben. Severian? Meine Damen? Wart ihr schon einmal hier?«
    Sogar Jolenta schüttelte den Kopf, und ich sagte: »Nein, ich habe mein ganzes Leben mitten in der Stadt verbracht. Von unserer glasbedeckten Turmkammer aus ist die Mauer nur ein schwarzer Strich am nördlichen Horizont gewesen. Ich bin erstaunt, gestehe ich.«
    »Die Alten haben gut gebaut, nicht wahr? Stellt euch vor, nach so vielen Jahrtausenden ist das ganze freie Gelände, das wir heute durchwandert haben, noch für das Wachstum der Stadt übrig. Aber Baldanders schüttelt den Kopf. Weißt du denn nicht, daß eines Tages alle Auen und Wäldchen, durch die wir seit heut' früh gekommen sind, verbaut sein werden mit Häusern und Gassen?«
    Baldanders sagte: »Sie waren nicht für die Vergrößerung von Nessus.«
    »Natürlich, natürlich. Ich wette, du warst dabei und weißt Bescheid.« Der Doktor zwinkerte mit den Augen. »Baldanders ist älter als ich und meint deshalb, alles zu wissen. Manchmal zumindest.«
    Bald trennten uns nur noch an die hundert Schritte von der Hauptstraße, und Jolenta wollte der Reiseverkehr nicht mehr aus dem Sinn gehen. »Wenn's dort eine Sänfte zu mieten gibt, mußt du mir eine besorgen«, bat sie Dr. Talos. »Wenn ich den ganzen Tag gehen muß, werde ich heute abend nicht spielen können.«
    Er schüttelte den Kopf. »Du vergißt, daß ich kein Geld habe. Wenn du dir eine Sänfte nehmen willst, darfst du das selbstverständlich. Wenn du heut' abend nicht auftreten kannst, wird dein Ersatz einspringen.«
    »Mein Ersatz?«
    Der Doktor deutete auf Dorcas. »Ich wette, sie ist erpicht auf die Hauptrolle und wird sie großartig spielen. Warum, glaubst du, hab'

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