Der Schatten des Folterers
der Nekropolis gewesen war. Vielleicht deuteten ihre großen, violetten Augen mit den blauen Lidschatten und das schwarze, wie ein V in ihre Stirn reichende Haar die Kapuze eines Mantels an. Was immer auch der Grund sein mochte, ich liebte sie auf der Stelle – liebte sie zumindest so, wie ein dummer Junge lieben kann. Aber weil ich nur ein dummer Junge war, wußte ich's nicht.
Mit ihrer weißen, kühlen, etwas feuchten und unmöglich schmalen Hand berührte sie beim Abnehmen des Tabletts die meinige. »Das ist gewöhnliche Kost«, erklärte ich ihr. »Ich glaube, Ihr könnt etwas Besseres bekommen, wenn Ihr darum bittet.«
»Du trägst keine Maske«, sagte sie. »Deines ist das erste Gesicht, das ich hier sehe.«
Sie lächelte und fühlte sich, wie ich mich im Atrium der Zeit gefühlt hatte, als ich in ein warmes Zimmer mit gedeckter Tafel kam. Sie hatte schmale, strahlend weiße Zähne in ihrem breiten Mund; ihre Augen, ein jedes so tief wie die Zisterne unter dem Glockenturm, leuchteten beim Lächeln.
»Verzeihung«, sagte ich, »ich habe Euch nicht gehört.«
Wieder lächelte sie, wobei sie ihr liebliches Haupt zur Seite neigte.
»Ich sagte, wie froh ich sei, dein Gesicht zu sehen, und fragte, ob du mir in Zukunft mein Essen bringen könntest und was du mir gebracht habest.«
»Nein, nein. Geht nicht. Nur heute, weil Drotte zu tun hat.« Ich überlegte, was für ein Essen sie bekommen hatte (da sie das Tablett auf ihr Tischchen gestellt hatte, konnte ich die Speisen durch das Gitter nicht mehr sehen). Es fiel mir nicht wieder ein, obwohl mir vom angestrengten Nachdenken fast der Kopf zerbarst. Schließlich wiederholte ich schleppend: »Eßt lieber. Doch glaube ich, daß Ihr bessere Kost bekommen könnt, wenn Ihr Drotte fragt.«
»Und ob ich essen werde. Man hat mir immer Komplimente wegen meiner schlanken Figur gemacht, aber glaube mir, ich esse wie ein ausgehungerter Wolf.« Sie holte das Tablett und hielt es mir entgegen, als ahnte sie, daß ich jede Hilfe brauchte, um seinen geheimnisvollen Inhalt zu erraten.
»Das ist Lauch, Chatelaine«, erläuterte ich. »Dieses grüne Zeug. Das braune sind Linsen. Und das ist Brot.«
»Chatelaine? Du brauchst nicht so förmlich sein. Du bist mein Kerkermeister und kannst mich nennen, wie du willst.« Heiterkeit leuchtete nun aus den tiefen Augen.
»Ich möchte Euch nicht kränken«, erklärte ich. »Wollt Ihr lieber anders genannt werden?«
»Nenn mich Thecla – so heiße ich. Titel sind für förmliche Anlässe, Namen für nicht förmliche, und das hier ist ein solcher oder keiner. Obwohl ich annehme, daß es sehr förmlich zugehen wird, wenn ich meine Strafe erhalte?«
»So ist's normalerweise bei Beglückten.«
»Es wird ein Exarch anwesend sein, vermute ich, falls ihr ihn einlaßt. Ganz in Purpur. Und einige andere mehr – vielleicht der Starost Engino. Bist du sicher, daß das Brot ist?« Sie betastete es mit ausgestrecktem Finger, der so weiß war, daß ich einen Moment befürchtete, das Brot könnte ihn beschmutzen.
»Ja«, erwiderte ich. »Sicherlich hat die Chatelaine schon einmal Brot gegessen?«
»Kein solches.« Sie hob die dünne Scheibe und trennte mit den Zähnen rasch und sauber einen Bissen ab. »Schmeckt gar nicht schlecht. Du sagst, ich bekäme besseres Essen, wenn ich darum bäte?«
»Ich glaube ja, Chatelaine.«
»Thecla. Ich habe um Bücher gebeten – vor zwei Tagen, als ich gekommen bin. Aber ich habe sie nicht erhalten.«
»Ich habe sie«, sagte ich. »Gleich hier.« Ich lief zu Drottes Tisch zurück, holte sie und reichte das kleinste durch den Schlitz.
»Oh, herrlich! Noch mehr?«
»Noch drei.« Auch das braune rutschte durch den Schlitz, aber der grüne Band und der Foliant mit dem aufgeprägten Wappen waren zu breit. »Drotte wird nachher die Tür öffnen und sie Euch geben«, sagte ich.
»Kannst du's nicht? Es ist schrecklich, sie draußen zu sehen, aber sie nicht anfassen zu können.«
»Ich dürfte Euch nicht einmal das Essen bringen. Drotte müßte das tun.«
»Aber du hast's getan. Außerdem hast du sie geholt. Solltest du sie mir nicht übergeben?«
Ich hätte nur schwache Einwände vorbringen können, weil sie im Prinzip recht hatte. Das Verbot von Lehrlingsarbeit in der Oubliette sollte Ausbrüchen vorbeugen; und ich wußte, daß diese schlanke Frau, so groß sie auch war, mich nie überwältigen könnte und keine Chance hätte, ohne Anruf durch den Wachtposten zu entweichen. Ich kehrte zur Tür der Zelle
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