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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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lange es die Möglichkeit zur Besserung gibt, aber jeden bestraft, sobald eine Besserung ausgeschlossen ist.«
    Ich sagte: »Diese Dinge sind zu kompliziert für mich.«
    »Nein, sind sie nicht. Du bist ebenso gescheit wie die meisten jungen Männer, glaube ich. Aber ich nehme an, ihr Folterer habt keine Religion. Verlangt man von euch, von jedem Glauben abzuschwören?«
    »Überhaupt nicht. Wir haben eine Himmelspatronin und Gebote, genau wie jede andere Zunft.«
    »Wir nicht«, antwortete sie. Einen Moment lang schien sie darüber zu brüten. »Nur die Gilden haben das und die Armee, die auch eine Art Gilde ist. Wir wären besser dran, hätten wir eine Religion. Obwohl jeder Festtag und jede Vigil eine Schau geworden ist, zu der man neue Kleider tragen kann. Gefällt dir das?« Sie stand auf und breitete die Arme aus, um ihr schmutziges Gewand vorzuführen.
    »Es ist sehr hübsch«, erlaubte ich mir zu bemerken. »Die Stickerei und die so nett aufgesetzten Perlen.«
    »Es ist das einzige, das ich hier besitze – was ich am Leib trug, als ich verhaftet wurde. Eigentlich ist's ein kleines Abendkleid.«
    Ich versicherte ihr, Meister Gurloes würde andere bringen lassen, wenn sie darum bäte.
    »Das habe ich bereits, und er sagt, er habe deswegen Leute zum Haus Absolut geschickt, aber sie hätten es nicht finden können, was beweist, daß das Haus Absolut vorgibt, es gäbe mich nicht. Nun ja, es wäre auch denkbar daß meine Kleider in unser Chateau im Norden oder in eine unserer Villen gesandt wurden. Er wird sie durch seinen Sekretär für mich anschreiben lassen.«
    »Wißt Ihr, wen er geschickt hat?« fragte ich. »Das Haus Absolut muß fast ebenso groß wie unsere Zitadelle sein; ich würde meinen, daß man es unmöglich verfehlen könnte.«
    »Im Gegenteil, das geht leicht. Weil man es nicht sehen kann, kann man dort sein, ohne es zu wissen, wenn man Pech hat. Außerdem sind alle Straßen gesperrt, und sie brauchten nur ihre Spione zu alarmieren, eine bestimmte Reisegruppe in eine falsche Richtung zu weisen, denn ihre Spione sind überall.«
    Ich wollte fragen, wie es möglich wäre, daß das Haus Absolut (das ich mir stets als gewaltigen Palast mit glänzenden Türmen und Kuppeldächern vorstellte) unsichtbar sei; aber Thecla war mit ihren Gedanken bereits ganz woanders, während sie mit den Fingern über eine Armspange in der Form einer Krake strich – einer Krake, deren Tentakel das weiße Fleisch ihres Armes umfaßten; deren Augen Smaragdcabochons waren. »Das durfte ich behalten, 's ist recht wertvoll. Platin, kein Silber. War überrascht.«
    »Es gibt hier keinen, der bestechlich wäre.«
    »Es ließe sich in Nessus verkaufen, um Kleider zu beschaffen. Haben irgendwelche Freunde von mir probiert, mich zu besuchen? Weißt du das, Severian?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Sie würden nicht vorgelassen werden.«
    »Ich weiß, aber jemand könnt's probieren. Ist dir bewußt, daß die meisten Leute im Haus Absolut nicht wissen, daß es das hier gibt? Wie ich sehe, glaubst du mir nicht.«
    »Ihr meint, sie wissen nicht von der Zitadelle?«
    »Die kennen sie natürlich. Teile davon sind ja für die Öffentlichkeit zugänglich, und ihre Zinnen sind sowieso nicht zu übersehen, wenn man an den südlichen Stadtrand kommt, egal von welchem Ufer des Gyoll aus.« Sie klatschte mit der Hand gegen die Metallwand ihrer Zelle.
    »Von dem hier wissen sie nicht – zumindest leugnet der Großteil, daß es das noch gibt.«
    Sie war eine große, große Chatelaine, ich hingegen weniger als ein Sklave (ich meine in den Augen des gemeinen Volkes, das die Funktionen unserer Zunft nicht richtig versteht). Als jedoch die Zeit vorüber war und Drotte an die klingende Tür klopfte, so war ich es, der sich erhob, die Zelle verließ und bald in die kühle Abendluft hinaufstieg, während Thecla zurückblieb und sich das Stöhnen und Geschrei der anderen Insassen anhörte. (Obwohl ihre Zelle ein gutes Stück von der Treppe entfernt lag, konnte sie das Gelächter aus dem dritten Geschoß hören, wenn niemand zum Reden bei ihr war.)
    Am selben Abend erkundigte ich mich in unserem Schlafsaal danach, ob jemand die Namen der Gesellen wisse, welche Meister Gurloes zum Haus Absolut ausgesandt habe. Keiner hatte eine Ahnung, aber meine Frage löste eine lebhafte Diskussion aus. Obzwar keiner der Knaben den Ort gesehen oder auch nur mit einem Augenzeugen gesprochen hatte, hatten sie alle Geschichten darüber gehört. Die meisten stammten aus dem

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