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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Reich der Fabel – goldene Teller und seidene Satteldecken und dergleichen mehr. Interessanter waren die Beschreibungen des Autarchen, der ein Ungeheuer hätte sein müssen, um allen gerecht zu werden; angeblich war er im Stehen groß, im Sitzen von normaler Größe, betagt, jung, eine als Mann verkleidete Frau und so weiter. Noch absurder waren die Geschichten um seinen Wesir, den berühmten Vater Inire, der einem Affen gleichsehe und der älteste Mann der Welt sei.
    Wir hatten gerade allen Ernstes damit begonnen, solche Märchen auszutauschen, als es an die Tür klopfte. Der Jüngste öffnete, und ich erblickte Roche – nicht in schwarzen Kniehosen und schwarzem Mantel, wie es die Regeln der Zunft bestimmen, sondern in gewöhnlicher, wenn auch neuer und moderner Kleidung, bestehend aus Hose, Hemd und Rock. Er winkte mir, und als ich zu ihm an die Tür kam, bedeutete er mir, ihm zu folgen.
    Nachdem wir die Treppe ein Stück hinabgestiegen waren, sagte er:
    »Ich fürchte, ich hab' den kleinen Kerl erschreckt. Er weiß nicht, wer ich bin.«
    »Nicht in diesem Gewand«, erwiderte ich. »Er würde sich an dich erinnern, wenn er dich in deiner üblichen Tracht sähe.«
    Das schmeichelte ihm so, daß er lachte. »Weißt du, es war ein komisches Gefühl, an diese Tür klopfen zu müssen. Heute ist was für ein Tag? Der achtzehnte – noch nicht einmal drei Wochen sind's her. Wie läuft's bei dir?«
    »Recht gut.«
    »Offenbar hast du den Haufen im Griff. Eata ist dein Vize, nicht wahr? Er wird erst in drei Jahren Geselle, so daß er drei nach dir Lehrlingswart sein wird. Ist gut für ihn, die Erfahrung, und ich bedauere jetzt, daß du nicht mehr sammeln konntest, bevor du die Stellung übernehmen mußtest. Ich stand dir im Weg, was mir damals aber nicht bewußt war.«
    »Roche, wohin gehen wir?«
    »Nun, erst einmal in meine Stube hinunter, um dich umzuziehen. Freust du dich schon darauf, selbst Geselle zu werden, Severian?«
    Dieses letzte Wort hatte er mir über die Schulter zugeworfen, als er vor mir die Stufen hinunterstapfte, und er wartete nicht auf eine Antwort. Mein Kostüm ähnelte dem seinen, hatte aber andere Farben. Es lagen auch Mäntel und Mützen für uns bereit. »Du wirst froh sein darüber«, sagte er, als ich die meine aufsetzte. »Es ist kalt draußen und wird bald schneien.« Er reichte mir einen Schal und forderte mich auf, meine abgetretenen Schuhe auszuziehen und in ein Paar Stiefel zu schlüpfen.
    »Das sind Gesellenstiefel«, wandte ich ein. »Die kann ich nicht tragen.«
    »Mach schon! Jeder trägt schwarze Stiefel. Das fällt nicht auf. Passen sie?«
    Da sie zu groß waren, hieß er mich, über den meinen noch ein Paar seiner Socken anzulegen.
    »Nun, ich soll zwar die Börse behalten, aber da immer die Gefahr besteht, daß wir getrennt werden, wär's besser, du hättest eigenes Geld bei dir.« Er drückte mir einige Asimi in die Hand. »Fertig? Also gehen wir. Ich möchte so zeitig wie möglich zurück sein, um noch ein bißchen Schlaf zu bekommen.«
    Wir verließen den Bergfried und eilten in unseren ungewohnten Gewändern um den Hexenturm zu dem gedeckten Weg, der vorbei am Martello zu einem »Bruch« genannten Hof führt. Roche hatte recht gehabt: es fing zu schneien an; flaumige Flocken, so groß wie mein Daumennagel, schwebten herab – scheinbar schon seit Jahren fallend, so langsam segelten sie durch die windstille Luft. Unsere Stiefel knirschten auf dem neuen, dünnen Mantel, in den die vertraute Welt sich hüllte.
    »Du hast Glück«, erklärte Roche. »Ich weiß nicht, wie du das angestellt hast, aber danke.«
    »Was angestellt?«
    »Einen Ausflug ins Echopraxia und eine Frau für jeden von uns. Ich weiß, daß du Bescheid weißt – Meister Gurloes sagte mir, daß er dich bereits in Kenntnis setzte.«
    »Das hatte ich vergessen, und überhaupt schien es mir fraglich, ob er es auch ernst meinte. Gehen wir zu Fuß? Es muß sehr weit sein.«
    »Nicht so weit, wie du denkst, aber ich sagte schon, daß wir Geld haben. Am Bitteren Tor stehen Fiaker. Dort stehen immer welche – die Leute gehen dort nur so ein und aus, auch wenn du dir das daheim in unserem kleinen Winkel nicht träumen ließest.«
    Um etwas zu sagen, erzählte ich ihm, was ich von der Chatelaine Thecla erfahren hatte: daß viele Leute im Haus Absolut nicht um unsere Existenz wüßten.
    »Dem ist so, ganz sicher. Wenn du in der Gilde aufwächst, kommt sie dir wie der Mittelpunkt der Welt vor. Wenn du aber ein bißchen

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