Der Schatten des Folterers
erwiderte die Jungfrau: »Schlag zu und sei ohne Furcht!«
Ich hob das Schwert. Ich weiß noch, daß ich einen Moment Angst gehabt habe, das Gleichgewicht zu verlieren.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, so fällt mir zuerst dieser Augenblick ein; um mich an mehr zu erinnern, muß ich mich von diesem Punkt aus vorwärts- oder zurückarbeiten. In meinem Gedächtnis sehe ich mich immer dort stehen in grauem Hemd und zerlumpten Hosen, mit über meinem Haupt aufgerichtetem Schwerte. Als ich es hob, war ich ein Lehrling; wenn es niederführe, wäre ich ein Geselle des Ordens der Wahrheitssucher und Büßer.
Wir haben eine Regel, die vorschreibt, daß der Henker zwischen seinem Opfer und dem Licht stehen muß; das Haupt der Jungfrau ruhte im Schatten auf dem Richtblock. Ich wußte, daß das fallende Schwert ihr kein Haar krümmen würde – ich würde es zur Seite lenken und damit einen genialen Mechanismus auslösen, der einen blutverschmierten Wachskopf zum Vorschein brächte, während die Jungfrau den ihrigen unter einem schwarzen Tuch verbärge. Dennoch zögerte ich, den Hieb auszuführen.
Wieder sprach sie vom Boden zu meinen Füßen, und ihre Stimme dröhnte in meinen Ohren: »Schlag zu und sei ohne Furcht!« Mit aller Kraft ließ ich die falsche Klinge niedersausen. Einen Augenblick lang glaubte ich Widerstand zu spüren; dann fuhr sie dumpf in den Block und spaltete ihn in zwei Teile. Das Haupt der Jungfrau, über und über mit Blut bedeckt, rollte vor die gespannten Brüder. Meister Gurloes packte es am Haar, und Meister Palaemon wölbte seine Linke, um das Blut aufzufangen.
»Mit diesem unserem Chrisam«, sagte er, »salbe ich dich, Severian, zum Bruder auf ewig.« Sein Zeigefinger malte das Zeichen auf meine Stirn.
»So sei es«, riefen Meister Gurloes und alle Gesellen außer mir.
Die Jungfrau stand auf. Obwohl ich wußte, daß ihr Haupt nur unter dem Tuch steckte, war dort scheinbar nichts. Ich fühlte mich benommen und matt.
Sie nahm den Wachskopf von Meister Gurloes und tat so, als setzte sie ihn sich wieder auf die Schultern, wobei sie ihn mit einem Kunstgriff unter das schwarze Tuch gleiten ließ; sodann stand sie strahlend und unversehrt vor uns. Ich kniete vor ihr nieder, und die anderen zogen sich zurück.
Sie hob das Schwert hoch, mit dem ich ihr soeben den Kopff abgehackt hatte; die Klinge war durch die Berührung mit dem Wachs nun blutig. »Du gehörst zu den Folterern«, verkündete sie. Ich spürte, wie das Schwert an meine beiden Schultern tippte und mir eifrige Hände die Kopfmaske der Zunft übers Gesicht streiften und mich hochstemmten. Bevor ich richtig merkte, was mir geschah, fand ich mich auf den Schultern zweier Gesellen wieder – wie ich nachher erfuhr, waren das Drotte und Roche, was ich mir eigentlich hätte denken können. Ich wurde, von allen laut umjubelt, über den Mittelgang durch die Kapelle getragen.
Kaum waren wir draußen, setzte das Feuerwerk ein: Frösche knallten uns um die Füße und sogar um die Ohren, Schwärmer jagten in die tausendjährigen Mauern der Kapelle, rote und gelbe und grüne Raketen sausten durch die Luft. Ein Kanonenschuß vom Großen Turm zerriß die Nacht.
All das köstliche Fleisch, das ich beschrieben habe, stand auf den Tafeln im Hof; ich saß am Kopfende zwischen den Meistern Palaemon und Gurloes und trank zu viel (schon ganz wenig ist mir immer zu viel gewesen) und wurde bejubelt und mit Trinksprüchen bedacht. Was aus der Jungfrau geworden ist, weiß ich nicht. Sie ist wie an jedem Katharinenfest, an das ich mich erinnern kann, verschwunden. Ich habe sie nicht wiedergesehen.
Wie ich in mein Bett gelangt bin, davon habe ich keine Ahnung. Solche, die viel trinken, haben mir erzählt, daß sie manchmal vergessen, was im letzten Teil des Abends geschehen ist, und vielleicht ist es bei mir ebenso gewesen. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, daß ich (der ich nie etwas vergesse, der ich, wenn ich einmal die Wahrheit sagen darf, auch wenn es nach Prahlerei klingt, wirklich nicht verstehe, was andere mit ›vergessen‹ meinen, scheint mir doch, daß jede Erfahrung Teil von mir wird) nur geschlafen habe und dorthin getragen worden bin.
Jedenfalls erwachte ich nicht unter der vertrauten, niedrigen Decke unseres Schlafsaales, sondern in einer Stube, die – weil sie so klein – höher als breit war, einer Gesellenstube, und zwar der unbeliebtesten im ganzen Turm, weil ich von den Gesellen der geringste war: einem fensterlosen Kabuff, so
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