Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
eng wie eine Zelle.
    Das Bett unter mir schien zu schwanken. Ich klammerte mich an den Kanten fest, und nachdem ich mich aufgesetzt hatte, war es still, aber sobald mein Kopf wieder auf dem Kissen ruhte, begann das Schaukeln von neuem. Ich fühlte mich bald hellwach, bald so, als wäre ich soeben erst erwacht. Ich wurde mir bewußt, daß jemand bei mir in dem Kämmerchen war, und aus einem mir unerklärlichen Grund wähnte ich die junge Dame, welche die Rolle unserer Schutzheiligen gespielt hatte, bei mir.
    Ich richtete mich in dem schwankenden Bette auf. Schwaches Licht drang durch den Ritz unter der Tür ein; es war niemand hier.
    Als ich mich wieder niederlegte, war das Zimmer mit Theclas Parfüm erfüllt. Die falsche Thecla aus dem Azurnen Haus war also zu mir gekommen. Ich stieg aus dem Bett und öffnete, beinahe stürzend, die Tür. Im Gang draußen war niemand.
    Ein Nachttopf stand unter dem Bett. Ich zog ihn hervor und füllte ihn mit meinem Erbrochenen, dem fetten, in Weinbrühe schwimmenden Fleisch, versetzt mit Galle. Irgendwie empfand ich das als Verrat, als hätte ich mit dem Ausstoßen all dessen, was die Zunft mir in jener Nacht gegeben hatte, die Zunft selbst ausgestoßen. Hustend und schluchzend kniete ich neben dem Bett und legte mich, nachdem ich mir den Mund abgewischt hatte, schließlich wieder hin.
    Zweifellos schlief ich ein. Ich sah die Kapelle, aber sie war nicht die Ruine, die ich kannte. Vom Dach, das ganz, hoch und gerade war, hingen rubinrote Lampen. Das Gestühl war ganz und auf Hochglanz poliert; den alten Steinaltar umhüllte ein goldenes Tuch. Hinter dem Altar ragte ein wunderschönes blaues Mosaik empor, das jedoch leer war, als wäre ein Stück wolken- und sternenlosen Himmels herausgetrennt und über die geschwungene Mauer gebreitet worden.
    Ich schritt durch den Mittelgang darauf zu, wobei mir auffiel, daß es viel heller als der echte Himmel war, dessen Blau selbst bei strahlendstem Wetter beinahe ins Schwarze sticht. Um wieviel schöner das doch war! Der Anblick verzückte mich. Ich glaubte zu schweben, von der Schönheit beflügelt, und blickte hinab auf den Altar, hinab in den Kelch blutroten Weins, hinab auf das Schaubrot und uralte Messer. Ich lächelte ...
    Und erwachte. Im Schlaf hatte ich Schritte draußen auf dem Gang vernommen und war sicher, sie erkannt zu haben, obschon mir gerade nicht einfiel, wessen Tritte das waren. Mühsam rief ich mir den Klang ins Gedächtnis zurück; es war kein Menschenschritt, nur ein Tappen sanfter Füße und ein fast unhörbares Scharren.
    Ich vernahm es abermals, so schwach, daß ich eine Weile dachte, ich hätte die Erinnerung mit der Wirklichkeit verwechselt; aber es war echt, was sich dort auf dem Gang langsam näherte und langsam wieder zurückzog. Das bloße Heben des Kopfes löste eine Woge der Übelkeit aus; ich ließ ihn wieder zurücksinken und sagte mir, es gehe mich nichts an, wer dort hin- und herschreite. Das Parfüm war verschwunden, und so elend ich mich auch fühlte, ich glaubte, die Unwirklichkeit nicht mehr fürchten zu brauchen – die Welt der gegenständlichen Dinge und Taghelle hatte mich wieder. Meine Tür ging einen Spalt weit auf, und Meister Malrubius spähte herein, als wollte er sich meines Wohlbefindens vergewissern. Ich winkte ihm zu, woraufhin er die Tür leise wieder schloß.
    Erst eine ganze Weile später fiel mir ein, daß er schon in meiner Kindheit gestorben war.

Der Verräter
    Am nächsten Tag hatte ich Kopfschmerzen und war immer noch krank. Da mir jedoch (aufgrund alter Tradition) das Aufräumen und Putzen des Großen Hofes und der Kapelle, wo die meisten Brüder zugange waren, erspart blieb, brauchte man mich in der Oubliette. Für kurze Zeit wenigstens war mir die morgendliche Frische der Korridore eine Linderung. Dann kamen polternd die Lehrlinge angerückt (der Knabe Eata, nun nicht mehr ganz so klein, mit einer aufgeschlagenen Lippe und einem triumphalen Leuchten in den Augen), um den Klienten das Morgenmahl zu bringen – hauptsächlich kalte Fleischspeisen, Überbleibsel dessen, was vom Bankett nicht vertilgt worden war. Ich mußte mehreren Klienten erklären, daß dies der einzige Tag des Jahres sei, wo sie Fleisch bekämen, und versicherte einem nach dem anderen, daß es heute keine Marterungen gäbe – der Festtag und der Tag danach sind ausgenommen, und selbst wenn ein Urteil für solche Tage peinliche Befragungen verlangt, wird es ausgesetzt. Die Chatelaine Thecla schlief noch. Ohne sie

Weitere Kostenlose Bücher