Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
zu wecken, schloß ich ihre Zelle auf, trug ihr Essen hinein und stellte es auf den Tisch.
    Am Vormittag vernahm ich abermals hallende Schritte. Zum Treppenabsatz eilend, sah ich zwei Kataphrakte, einen Gebete lesenden Anagnosten, Meister Gurloes und eine junge Dame. Meister Gurloes fragte mich, ob ich eine leere Zelle habe, und ich zählte ihm auf, welche unbesetzt waren.
    »Dann übernimm die Gefangene. Ich habe sie schon eingetragen.«
    Nickend ergriff ich die Frau am Arm; die Kataphrakte ließen sie los und wandten sich wie silberne Automaten um.
    Ihr aufwendig gearbeitetes Wollsatinkostüm (nun zwar ein wenig beschmutzt und zerrissen) verriet, daß sie ein Optimat war. Eine Waffenträgerin hätte feineres Tuch in schlichterer Ausführung getragen, und niemand von den mittellosen Klassen hätte sich so gut kleiden können. Der Anagnost wollte uns in den Flur folgen, aber Meister Gurloes verwehrte ihm den Zutritt. Ich hörte die eisenbeschlagenen Stiefel der Soldaten auf der Treppe.
    »Wann werde ich ...?« begann sie mit einem fragenden Tonfall in der schreckerfüllten Stimme.
    »In den Vernehmungsaal gebracht?«
    Sie klammerte sich nun an meinen Arm, als wäre ich ihr Vater oder Liebhaber. »Werde ich?«
    »Ja, Madame.«
    »Wie weißt du das?«
    »Alle hier werden, Madame.«
    »Immer? Wird denn nie jemand freigelassen?«
    »Gelegentlich.«
    »Dann vielleicht auch ich, oder?« Die Hoffnung in ihrer Stimme erinnerte mich an eine im Schatten wachsende Blume.
    »Das ist möglich, aber unwahrscheinlich.«
    »Willst du nicht wissen, was ich getan habe?«
    »Nein«, antwortete ich. Zufällig war die Zelle neben Thecla frei; ich überlegte kurz, ob ich die Frau dort unterbringen sollte. Thecla bekäme dadurch Gesellschaft (die beiden könnten sich durch die Türschlitze unterhalten), aber die Fragen der Neuen und das Auf- und Abschließen der Zelle könnten sie nun wecken. Ich entschloß mich dazu – die Gesellschaft würde das bißchen verlorenen Schlaf mehr als ausgleichen.
    »Ich war verlobt mit einem Offizier, der sich, wie ich herausfand, eine Dirne hielt. Da er sie nicht aufgeben wollte, ließ ich durch gedungene Räuber ihr Dach anzünden. Sie verlor ein Federbett, ein paar Möbelstücke und Kleider. Ist das ein Verbrechen, für das ich die Folter verdiene?« »Weiß ich nicht, Madame.«
    »Mein Name ist Marcellina. Wie heißt du?«
    Ich sperrte mit dem Schlüssel ihre Zelle auf, wobei ich überlegte, ob ich ihr antworten solle. Thecla, die sich jetzt rührte, wie ich hören konnte, würde ihn ihr gewiß sowieso verraten. »Severian«, sagte ich.
    »Und du verdienst dir dein Brot mit Knochenbrechen. Du mußt ja nachts schöne Träume haben.«
    Theclas weit auseinanderstehende, brunnentiefe Augen erschienen nun im Türschlitz ihrer Zelle. »Wer ist bei dir, Severian?«
    »Ein neuer Gefangener, Chatelaine.«
    »Eine Frau? Ich weiß, daß es eine ist – ich habe ihre Stimme gehört. Vom Haus Absolut?«
    »Nein, Chatelaine.« Weil ich nicht wußte, wieviel Zeit vergehen würde, bis sich die beiden wieder sehen könnten, ließ ich Marcellina vor Theclas Tür treten.
    »Noch eine Frau. Ist das nicht ungewöhnlich? Wieviele habt ihr, Severian?«
    »In diesem Stock jetzt acht, Chatelaine.«
    »Ich würde meinen, daß ihr meistens mehr habt.«
    »Es sind selten mehr als vier, Chatelaine.«
    Marcellina fragte: »Wie lange werde ich hier bleiben müssen?«
    »Nicht lange. Die wenigsten bleiben hier lange, Madame.«
    Mit gefährlicher Überzeugung bemerkte Thecla: »Meine Freilassung steht unmittelbar bevor, verstehst du? Er weiß es.«
    Die neue Klientin unserer Zunft betrachtete mit erhöhtem Interesse, was von ihr zu sehen war. »Werdet Ihr wirklich bald freigelassen, Chatelaine?« »Er weiß es. Er hat Briefe für mich abgeschickt – nicht wahr, Severian? Und er sagt seit neuestem adieu. Er ist wirklich ein ganz netter Junge auf seine Art.«
    Ich sagte: »Ihr müßt nun hineingehen, Madame. Ihr könnt weiterreden, wenn Ihr wollt.«
    Als die Klienten ihr Abendessen bekommen hatten, war ich erleichtert. Drotte traf mich auf der Treppe und empfahl mir, zu Bett zu gehen.
    »Es ist die Maske«, antwortete ich. »Du bist es nicht gewohnt, mich damit zu sehen.«
    »Ich kann deine Augen sehen, und das genügt. Kannst du nicht alle Brüder an ihren Augen erkennen und sagen, ob sie zornig oder zu einem Scherz aufgelegt sind? Du solltest zu Bett gehen.«
    Ich müsse zuerst noch etwas erledigen, meinte ich und begab mich in

Weitere Kostenlose Bücher