Der Schatten des Folterers
Handgelenke. Nach einem Moment blickte sie zu den anderen Frauen zurück, die hinter den Kämpfern gewartet hatten. Ehe ich mich versehen hatte, was geschah, ergriffen zwei davon Agias Gewand und zogen es ihr über den Kopf aus. Eine sagte: »Nichts, Mutter.«
»Ich glaube, der Tag hat's angekündigt.«
Sie kreuzte die Arme über der Brust. Agia flüsterte mir zu: »Diese Pelerinen sind verrückt. Das weiß jeder, und hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich's dir gesagt.«
Die hochgewachsene Frau befahl: »Gebt ihr ihre Lumpen zurück. Die Klaue ist seit Menschengedenken nicht verschwunden, doch da sie das willkürlich tut, wäre es für uns weder möglich noch statthaft, sie daran zu hindern.«
Eine der Frauen wisperte: »Vielleicht finden wir sie doch noch in den Trümmern, Mutter.« Eine zweite meinte: »Sollen wir sie nicht zahlen lassen?« – »Töten wir sie«, sagte ein Mann.
Die hochgewachsene Frau gab kein Zeichen, daß sie etwas davon gehört hatte. Sie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und rauschte über das Stroh davon. Die Frauen folgten ihr, Blicke austauschend, und die Männer senkten ihre blitzenden Säbel und wichen zurück.
Agia zwängte sich in ihr Kleid. Ich fragte sie, was sie über die Klaue wisse und was die Pelerinen seien.
»Schaff mich hier raus, Severian, und ich sag's dir. Es bringt kein Glück, mit ihnen unter ihrem eigenen Dach zu sprechen. Ist das ein Riß in der Wand dort drüben?«
Wir hielten auf die Richtung zu, in die sie gezeigt hatte, wobei wir hin und wieder im weichen Stroh stolperten. Wir fanden keine Öffnung, aber ich konnte den Rand der Seidenwand genügend anheben, um darunter hindurchzukriechen.
Der Botanische Garten
Die Sonne blendete uns; es war, als wären wir aus der Dämmerung in den hellichten Tag gekommen. Goldene Strohteilchen trieben um uns herum durch die frische Luft.
»Schon besser«, sagte Agia. »Warte kurz, ich muß mich erst zurechtfinden. Ich glaube, die Adamnische Treppe liegt rechts von uns. Der Kutscher wäre zwar nicht über sie gefahren – oder vielleicht doch, der Kerl war verrückt – aber sie bringt uns wohl auf kürzestem Weg zum Eingang. Gib mir wieder den Arm, Severian. Mein Bein ist doch nicht ganz heil.«
Wir schritten nun durch Gras, und ich sah, daß die Zeltkathedrale auf einer von festungsartigen Häusern eingeschlossenen Wiese aufgebaut worden war. Über den Zinnen ragten unwirkliche Wehrtürme empor. Eine breite Pflasterstraße säumte das freie Feld, und als wir zu dieser gelangten, fragte ich noch einmal nach den Pelerinen.
Agia sah mich von der Seite an. »Du mußt verzeihen, aber es fällt mir nicht leicht, über berufsmäßige Jungfrauen mit einem Mann zu sprechen, der mich soeben nackt gesehen hat. Obwohl das unter anderen Umständen vielleicht nicht so wäre.« Sie nahm einen tiefen Atemzug. »Ich weiß wirklich nicht viel über sie, aber wir führen ein paar ihrer Trachten im Laden, und ich habe einmal meinen Bruder gefragt und von da an immer aufgepaßt, wenn mir etwas darüber zu Ohren gekommen ist. Die Tracht ist ein beliebtes Kostüm für Maskenbälle – das viele Rot.
Nun ja, es handelt sich um einen Konventikelorden, wie du sicherlich schon erkannt hast. Das Rot symbolisiert das kommende Licht der Neuen Sonne; die Grundbesitzer heimsuchend, ziehen sie mit ihrer Kathedrale durchs Land und reißen den Boden, den sie zum Aufstellen brauchen, an sich. Angeblich besitzt der Orden das wertvollste existierende Relikt, die Klaue des Schlichters, so daß das Rot auch für die Wunden der Klaue stehen könnte.«
Scherzhaft warf ich ein: »Ich wußte gar nicht, daß er Klauen hatte.«
»Es ist keine richtige Klaue – sondern ein Edelstein, sagt man. Du mußt davon gehört haben. Ich verstehe nicht, warum sie ›Klaue‹ heißt, und bestimmt wissen das die Priesterinnen selbst nicht. Aber angenommen, sie hat wirklich etwas mit dem Schlichter zu tun, kann man sich denken, welche Bedeutung ihr beizumessen ist. Schließlich ist all unser Wissen um ihn rein historisch – das heißt, wir können weder be- noch widerlegen, daß er in grauer Vorzeit mit unserer Rasse in Verbindung gestanden hat. Wenn die Klaue ist, was die Pelerinen behaupten, dann hat er einmal gelebt, auch wenn er jetzt vielleicht tot ist.«
Ein erstaunter Blick von einer Frau, die eine Zimbel trug, verriet mir, daß der von Agias Bruder gekaufte Umhang in Unordnung geraten war, so daß das Schwarz meines Mantels (das der armen Frau schier wie
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