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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Rumhüpfen anfängt.«
    Dorcas setzte uns alle in Erstaunen, indem sie entgegnete:
    »Ich bin nicht verrückt. Es ist nur ... mir ist, als wäre ich soeben erwacht.«
    Hildegrin ließ sie dennoch bei mir im Heck Platz nehmen. »Das hier«, begann er, als er abstieß, »das hier werdet ihr nicht so schnell vergessen, wenn ihr's noch nicht erlebt habt. Das Überqueren des Vogelsees im Garten des Ewigen Schlafs.« Dumpf und irgendwie bedrückend klatschten seine Ruder aufs Wasser.
    Ich fragte, wieso er Vogelsee heiße.
    »Weil so viele tot im Wasser gefunden werden, sagen die einen. Aber es kommt vielleicht nur daher, daß es hier so viele gibt. Es wird 'ne Menge gegen den Tod gesagt. Ich mein' von den Leuten, die sterben müssen, die sein Bild mit sich herumschleppen wie ein altes Weib einen Sack und so fort. Aber er ist den Vögeln ein guter Freund, der Tod. Wo es tote Menschen und Ruhe gibt, trifft man immer recht viele Vögel an, das ist meine Erfahrung.«
    Mir fielen die singenden Drosseln in unserer Nekropolis ein, und ich nickte.
    »Nun schaut an meiner Schulter vorbei, und ihr seht deutlich das Ufer vor uns und viele Dinge, die euch vorhin verborgen gewesen sind wegen der vielen Binsen, die überall um euch herum gestanden haben. Ihr bemerkt, wenn's nicht zu dunstig ist, daß das Gelände weiter hinten ansteigt. Dort hört der Sumpf auf und fängt der Wald an, Seht ihr's?«
    Ich nickte wieder, und Dorcas neben mir nickte ebenfalls. »Das kommt daher, weil diese ganze Schaulandschaft im Krater eines erloschenen Vulkans angelegt ist. Als Maul eines Toten, sagen manche, aber das stimmt nicht. Sonst hätte man ihm Zähne eingesetzt. Ihr werdet euch aber erinnern, daß ihr beim Hereinkommen durch eine Röhre im Boden gestiegen seid.«
    Wiederum nickten Dorcas und ich gemeinsam. Obwohl Agia nur vier Schritte von uns entfernt saß, war sie hinter Hildegrins breiten Schultern und Flauschmantel fast ganz außer Sicht.
    »Da drüben«, fuhr er fort, indem er mit seinem eckigen Kinn in die Richtung deutete, »müßtet ihr einen schwarzen Fleck sehen können. Etwa in halber Höhe zwischen dem Sumpf und dem Kraterrand. Manche entdecken ihn und meinen, dort seien sie rausgekommen, aber der liegt hinter euch und tiefer und ist viel kleiner, der Eingang. Was ihr dort seht, ist die Sibyllenhöhle – der Seherin, die das Kommende, das Gewesene und alles andere weiß. Manche sagen, diese ganze Landschaft ist nur ihretwegen gebaut worden, aber das glaub' ich nicht.«
    Sachte fragte Dorcas: »Wie könnte das sein?«, und Hildegrin mißverstand sie, oder tat wenigstens so.
    »Der Autarch will sie hier haben, sagt man, damit er sie aufsuchen kann, ohne ans andere Ende der Welt reisen zu müssen. Ich hab' davon wenig Ahnung, aber manchmal seh' ich jemanden dort hinaufklettern und Metall oder auch ein, zwei Juwelen aufblitzen. Wer's ist, weiß ich nicht, und da ich meine Zukunft nicht erfahren will – und meine Vergangenheit kenn' ich besser als die da oben, möcht' ich meinen –, steig' ich nie zur Höhle hoch. Ab und zu kommen Leute, die wissen wollen, wann sie heiraten oder ob sie Erfolg in ihrem Geschäft haben werden. Aber sie kommen nicht oft wieder, hab' ich beobachtet.«
    Wir hatten fast die Mitte des Sees erreicht. Der Garten des Ewigen Schlafes stieg um uns herum an wie die Wände einer riesigen Schale, zu den Rändern hin moosartig mit Pinien besetzt, im Grunde mit Binsen und Segge ausgeschäumt. Mir war noch sehr kalt – um so mehr, als ich untätig in der Barke sitzen mußte, während ein anderer ruderte; ich machte mir erste Gedanken, was das eingedrungene Wasser an der Klinge von Terminus Est anrichten würde, wenn ich sie nicht bald trocknen und fetten könnte; dennoch stand ich unter dem Bann dieses Gartens. (Und einen Bann, den gab es hier gewiß. Ich konnte sie beinahe über das Wasser tönen hören, die Säuselstimmen, die in einer Sprache sangen, die ich nicht kannte, aber verstand.) Ich glaube, jeder ist ihm ausgeliefert gewesen, sogar Hildegrin und Agia. Eine Weile fuhren wir stumm dahin. Ich sah Gänse, die durchaus einen munteren und zufriedenen Eindruck machten, weit entfernt durchs Wasser paddeln; und einmal wie in einem Traum das fast menschliche Gesicht eines Lamantins, das mir aus ein paar Spannen Tiefe von der braunen Brühe entgegenstarrte.

Die Todesblume
    Neben mir pflückte sich Dorcas eine Wasserhyazinthe und steckte sie ins Haar. Bis auf den unscheinbaren weißen Klecks am vor uns liegenden Ufer

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