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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Hand, schob sie in ihre Lumpen und drückte sie auf ihren rechten Busen. Ich spürte die Brustwarze, fest wie eine Kirsche, und die warme, zarte Rundung – fein, weich, heißblütig pulsierend. »Nun«, fragte sie, »was sind deine Gedanken? Auch wenn ich dir die Außenwelt versüßt habe, sind sie nicht geringer als vorher?«
    »Wo hast du das alles gelernt?« wollte ich wissen. Der weise Ausdruck war aus ihrem Antlitz gewichen und hatte sich in ihren Augenwinkeln zu kristallklaren Tröpfchen verdichtet.
    Das Ufer, an dem die Avernen wuchsen, war nicht so morastig wie das andere. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach dem langen Gehen auf schwankender Segge und der langen Kahnfahrt den Fuß wieder auf einigermaßen festen Boden zu setzen. Wir waren etwas abseits der Pflanzen an Land gegangen; freilich nahe genug, den weißen Klecks hinsichtlich Farbe, Form und Größe hinlänglich unterscheiden zu können. Ich sagte: »Sie sind wohl nicht von hier? Nicht von unserer Urth?« Niemand antwortete mir; ich denke, ich hatte so leise gesprochen, daß mich von den anderen (bis auf Dorcas vielleicht) keiner gehört hatte.
    Die Avernen waren von einer Starrheit, einer geometrischen Präzision geprägt, die sicherlich unter einer anderen Sonne entstanden war. Die Farbe der Blätter erinnerte an den Rücken eines Skarabäus, wies jedoch eine dunklere und gleichzeitig zartere, halb durchscheinende Tönung auf. Daraus ging offenbar hervor, daß es irgendwo in unvorstellbarer Ferne ein Licht gab, ein Spektrum, das die Welt ausgedörrt oder verklärt hätte.
    Beim Näherkommen – Agia führte unsere Gruppe an, ich folgte ihr vor Dorcas, und Hildegrin ging am Schluß – sah ich, daß jedes Blatt starr und spitz wie eine Messerklinge und so scharfrandig war, daß der Schliff sogar einem Meister Gurloes genügt hätte. Über diesen Blättern thronten die halb geschlossenen Blüten, die wir vom andern Ufer aus gesehen hatten; Gebilde reinster Schönheit, jungfräuliche Phantasien, von hundert Lanzen bewacht. Groß und saftig waren sie, und die Blumenblätter kräuselten sich derart, daß sie wirr und zerzaust gewirkt hätten, wären sie nicht zu einem verwickelten, beschwingten Muster vereinigt gewesen, das den Blick anzog wie eine sich drehende, spiralförmig bemalte Scheibe.
    Agia sagte: »Der gute Ton erfordert es, daß du die Averne selber pflückst, Severian. Aber ich gehe mit und zeige dir, wie man's macht. Den Arm unter die niedrigsten Blätter zu schieben und den Stengel über dem Boden abzubrechen, das ist die ganze Kunst.«
    Hildegrin packte sie an der Schulter. »Das wirst du nicht, mein Dämchen«, sagte er. Und zu mir: »Geh du nur, wenn du willst, junger Sieur! Ich bringe die Damen in Sicherheit.«
    Ich war schon mehrere Schritte von ihm entfernt, hielt aber inne, als er sprach. Glücklicherweise rief Dorcas in diesem Augenblick: »Sei vorsichtig«, so daß ich vorgeben konnte, ihre Warnung hätte mich zum Stehenbleiben gebracht.
    In Wahrheit war es anders. Seit der ersten Begegnung mit Hildegrin war ich mir sicher, daß ich ihn schon einmal gesehen hatte, obschon das Erkennen, das wie ein Schock blitzschnell vor sich ging, als ich Sieur Racho wiedertraf, diesmal länger gedauert hatte. Nun war ich durch die Einsicht wie vom Donner gerührt.
    Wie gesagt, kann ich mich an alles erinnern; oft finde ich jedoch ein Geschehnis, Gesicht oder Gefühl erst nach langwieriger Suche. In diesem Fall hatte ich wohl deswegen Schwierigkeiten, weil ich ihn vom ersten Moment an, als er sich auf dem Riedsteg über mich gebeugt hatte, deutlich sehen konnte, während ich ihn das letzte Mal fast überhaupt nicht gesehen hatte. Erst als er sagte: »Ich bringe die Damen in Sicherheit«, kombinierte ich anhand seines Tonfalls.
    »Die Blätter sind giftig«, rief Agia. »Wenn du dir den Mantel fest um den Arm wickelst, bist du etwas geschützt, aber meide jede Berührung. Und paß auf – du bist einer Averne immer näher, als du glaubst!«
    Ich nickte, um ihr zu zeigen, daß ich verstanden hatte.
    Ob die Averne für das Leben in ihrer eigenen Welt tödlich ist, das kann ich nicht sagen. Vielleicht nicht; vielleicht ist sie für uns nur deshalb gefährlich, weil ihre Natur zufällig für die unsrige schädlich ist. Wie dem auch sei, am Boden zwischen und unter den Pflanzen wuchs kurzes, sehr dünnes Gras – auffallend anders als das übrige, derbe Gras; und dieses kurze Gras war bestreut mit gekrümmten Bienenleibern und hie und da mit

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