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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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bleichen Vogelknochen übersät.
    Bis auf einige Schritte herangenaht, blieb ich stehen, weil mir plötzlich ein Problem gewahr wurde, dem ich noch keine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Die ausgewählte Averne wäre meine Waffe im bevorstehenden Wettstreit. Da ich jedoch noch keine Ahnung hatte, in welcher Weise er ausgetragen würde, vermochte ich nicht zu beurteilen, was für eine Pflanze am geeignetsten wäre. Ich hätte zurückgehen und Agia fragen können, aber ich wäre mir lächerlich vorgekommen, in einer solchen Frage eine Frau zu konsultieren, also verließ ich mich am Ende auf mein Urteil, denn zweifellos würde sie mich zurückschicken, falls meine erste Wahl völlig verkehrt ausfiele.
    Die Avernen unterschieden sich in der Größe vom kaum spannenlangen Schößling bis zur Altpflanze von drei Ellen oder so. Diese Altpflanzen hatten weniger, aber größere Blätter. Jene der kleineren waren schmaler und saßen so dicht, daß der Stiel völlig verdeckt war; jene der größeren waren viel breiter im Verhältnis zur Länge und nicht so eng auf dem anscheinend fleischigen Stengel angeordnet. Falls (was wahrscheinlich schien) der Septentrion und ich unsere Pflanzen als Streitkolben verwenden würden, wäre die größtmögliche Pflanze mit möglichst langem Stiel und möglichst robusten Blättern die beste. Aber diese fanden sich nur in einigem Abstand von den Rändern des Beetes, so daß ich verschiedene kleinere hätte ummähen müssen, um an sie heranzukommen, was allerdings mit der von Agia angeratenen Methode sicher unmachbar war, denn die Blätter der vielen kleineren Pflanzen reichten fast bis zum Boden.
    Schließlich wählte ich eine etwa zwei Ellen hohe. Ich hatte mich vor sie gekniet und streckte die Hand nach ihr aus, als es mir mit einemmal wie Schuppen von den Augen fiel: meine Hand, die ich noch mehrere Spannen von der scharfen Spitze des nächsten Blattes entfernt wähnte, würde sogleich durchbohrt werden. Rasch zog ich sie zurück; die Pflanze schien beinahe außer Reichweite – ja, ich war mir nicht sicher, ob ich an ihren Stiel heranlangen könnte, selbst wenn ich mich auf den Bauch gelegt hätte. Die Versuchung, mein Schwert zu benutzen, wurde sehr groß, aber vor Agia und Dorcas wäre das nur zu schmachvoll – außerdem müßte ich auf dem Kampffeld sowieso mit der Pflanze hantieren können.
    Wieder schob ich die Hand vor, wobei ich jetzt vorsichtigerweise den Unterarm auf dem Boden beließ, und entdeckte, daß ich, obschon ich die Schulter ins Gras drücken und meinen Oberarm von den stechenden unteren Blättern fernhalten mußte, den Stiel eigentlich ungehindert erreichen konnte. Eine Blattspitze, die eine halbe Elle vor meinem Gesicht auftauchte, zitterte in meinem Atem.
    Während ich den Stiel abbrach – keine leichte Aufgabe! –, bemerkte ich, warum nur kurzes, feines Gras unter den Avernen gedieh. Eines der Blätter der Pflanze, die ich aus dem Boden riß, hatte einen Halm des derben Riedgrases eingekerbt, und die ganze Pflanze, die fast zwei Ellen Durchmesser hatte, verwelkte augenblicklich.
    Einmal gepflückt, erwies sich die Pflanze als gewaltige Plage, wie ich mir hätte denken können. Da es schlicht unmöglich war, sie mit in Hildegrins Kahn zu nehmen, ohne einen oder mehr von uns umzubringen, mußte ich vor der Wiedereinschiffung den Hang hinaufklettern und ein junges Bäumchen schneiden. Nachdem die Blätter abgeästet waren, fesselten Agia und ich die Averne an den spindeldürren Stock, so daß es später, als wir durch die Stadt zogen, den Anschein hatte, ich trüge eine bizarre Standarte.
    Daraufhin erklärte Agia den Gebrauch der Pflanze als Waffe; und ich brach mir eine zweite Pflanze (trotz ihrer Einwände und unter noch höherem Risiko, fürchte ich, weil ich zu zuversichtlich war) und übte, was sie vorgetragen hatte.
    Die Averne ist nicht nur, wie ich vermutet habe, ein Streitkolben mit giftigen Stacheln. Ihre Blätter lassen sich abreißen, indem man sie zwischen Daumen und Zeigefinger am Blattstiel abdreht, ohne mit der Hand die Ränder oder die Spitze zu berühren. Das Blatt ist dann im Endeffekt eine grifflose, giftige, rasiermesserscharfe Klinge, die sich leicht werfen läßt. Der Kämpfer faßt seine Pflanze am Ende des Stengels mit der Linken und reißt die unteren Blätter ab, die er mit der Rechten wirft. Agia warnte mich jedoch, meine Pflanze außer Reichweite des Gegners zu halten, denn wenn die Blätter abgerissen würden, trete an diesen Stellen der

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