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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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war das die erste Blume, die ich im Garten des Ewigen Schlafes gesehen hatte; ich blickte mich nach anderen um, entdeckte aber keine.
    War es möglich, daß die Blume nur zum Vorschein kam, weil Dorcas nach ihr griff? Am hellichten Tag ist mir immer wieder klar, daß so etwas unmöglich ist; aber ich schreibe nachts, und als ich damals im Kahn keine Elle von mir entfernt die Hyazinthe sah, habe ich mich über das Dämmerlicht gewundert und an Hildegrins Bemerkung gedacht: eine Bemerkung, mit der er angedeutet hat (obwohl er sich ihrer höchstwahrscheinlich nicht bewußt gewesen ist), daß die Sibyllenhöhle und folglich auch dieser Garten am anderen Ende der Welt liegen. Dort war, wie Meister Malrubius uns dereinst gelehrt hatte, alles umgekehrt: Hitze im Süden, Kälte im Norden; Licht bei Nacht, Dunkelheit bei Tag; Schnee im Sommer. Die Kühle, die mich frösteln ließ, wäre dann passend, denn es würde bald Sommer und der Wind trüge den ersten Schnee heran; die Dunkelheit, die sich sogar zwischen meine Augen und die blaue Blüte der Wasserhyazinthe schob, wäre auch passend, denn bald würde es Nacht – am Himmel dämmerte es schon.
    Gewiß erhält der Increatus in allen Dingen die Ordnung; und die Theologen sagen, das Licht sei sein Schatten. Muß es dann nicht so sein, daß bei Dunkelheit die Ordnung immer weniger wird und Blumen aus dem Nichts in eine Mädchenhand fallen, wie sie bei Licht im Frühling aus Schmutz und Staub hervorbrechen? Vielleicht herrscht, wenn die Nacht uns die Augen verschließt, weniger Ordnung, als wir glauben. Vielleicht ist es gerade diese fehlende Ordnung, die wir als Dunkelheit wahrnehmen, eine zufallsmäßige Zerstreuung der Energiewellen (wie ein Meer), der Energiefelder (wie Äcker), die bei Helligkeit zwar einer Ordnung unterworfen sind, der sie sich von sich aus nicht entziehen können, die unseren getäuschten Augen aber als wirkliche Welt erscheinen.
    Nebel stieg vom Wasser auf, der mich zuerst an den aufgewirbelten Strohstaub in der Kathedrale der Pelerinen erinnerte, dann an den dampfenden Suppenkessel, wie ihn der Bruder Koch an einem Winternachmittag ins Refektorium trug. Die Hexen gebrauchten angeblich solche Kessel, aber ich habe nie einen gesehen, obschon ihr Turm keine Kette von dem unsrigen entfernt gestanden hat. Ich wurde gewahr, daß wir durch den Krater eines Vulkans ruderten.
    Hätte das nicht der Kessel der Sibylle sein können? Das Feuer der Urth war längst erloschen, wie Meister Malrubius uns gelehrt hatte; höchstwahrscheinlich war es längst erkaltet, als die Menschen sich über das Tierreich erhoben und Urths Antlitz mit Städten überzogen. Hexen jedoch, so ging das Gerücht, könnten Tote wieder erwecken. Könnte Sibylle nicht das erkaltete Feuer wiederentfachen, um darauf ihren Kessel zu heizen? Ich tauchte die Finger ins Wasser; es war eiskalt.
    Hildegrin beugte sich beim Rudern bald vor, bald zurück. »Gehst deinem Tod entgegen«, sagte er. »Das ist's, was du denkst. Man kann's dir ansehen. Auf zum Blutacker, wo man dir den Garaus macht.«
    »Wirklich?« fragte Dorcas.
    Da ich nicht antwortete, nickte Hildegrin an meiner Stelle. »Mußt nicht, weißt schon. Mancher bricht die Regeln und läuft trotzdem frei rum.«
    »Du irrst«, engegnete ich. »Ich hab' weder ans Duellieren noch ans Sterben gedacht.«
    So leise, daß es wohl nicht einmal Hildegrin verstand, flüsterte Dorcas mir ins Ohr: »O doch! Dein Gesicht ist von Schönheit, von einer Art Adel erfüllt gewesen. Wenn die Welt schrecklich ist, sind die Gedanken groß, hehr und edel.«
    Ich sah sie an und dachte, sie verhöhne mich, aber sie meinte es ehrlich.
    »Die Welt ist zur Hälfte mit Bösem und zur Hälfte mit Gutem gefüllt. Wir können sie neigen, so daß mehr Gutes in unser Denken fließt, oder nach hinten kippen, und es läuft mehr hier hinein.« Ihr Blick wanderte über den ganzen See. »Aber die Mengen bleiben immer gleich; was sich hie und da verändert, ist das Verhältnis.«
    »Ich würde sie so tief zurückneigen, wie ich könnte, damit alles Böse ausflösse.«
    »Vielleicht würdest du damit das Gute ausgießen. Aber ich bin wie du; ich würde die Zeit zurückdrehen, wenn ich könnte.«
    »Auch glaube ich nicht, daß schöne Gedanken – oder weise – durch äußere Schwierigkeiten hervorgebracht werden.«
    »Ich habe nicht von schönen Gedanken gesprochen, sondern von edlen und hehren, obzwar das wohl auch eine Art Schönheit darstellt. Ich zeig's dir.« Sie hob meine

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