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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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blanke Stiel zum Vorschein, welchen der andere ergreifen könne, um mir die Pflanze zu entwinden.
    Als ich stolz meine zweite Averne schwang und übte, wie man damit zuschlug, wie man die Blätter abtrennte und warf, stellte ich fest, daß meine Pflanze mir wahrscheinlich fast ebenso gefährlich wie dem Septentrion werden konnte. Wenn ich sie dicht bei mir hielt, bestand das große Risiko, mir mit den langen unteren Blättern in den Arm oder die Brust zu stechen; und die Blüte mit ihrem beschwingten Muster bannte meinen Blick, wenn ich nach unten sah, um ein Blatt abzureißen, und zog mich mit kühler Todesgier an sich. All dies war wohl recht unerfreulich; aber als ich gelernt hatte, die halb geschlossene Blüte mit meinem Blick zu meiden, führte ich mir vor Augen, daß mein Gegner den gleichen Gefahren ausgesetzt sein würde.
    Das Werfen der Blätter war einfacher, als ich geglaubt hatte. Ihre Oberfläche war glatt wie die Blätter vieler Gewächse, die ich im Dschungelgarten gesehen hatte, so daß sie flugs aus den Fingern glitten, und sie waren schwer genug, um weit und zielsicher zu fliegen. Sie ließen sich mit der Spitze voraus wie ein Messer schleudern oder kreiselnd werfen, um alles, was sich ihnen in den Weg stellte, mit ihren tödlichen Rändern niederzuhacken.
    Es drängte mich natürlich danach, Hildegrin über Vodalus zu befragen; aber es bot sich erst Gelegenheit dazu, als er uns über den stillen See zurückgerudert hatte. Dann bemühte sich Agia eine Weile so eifrig darum, Dorcas zu verjagen, daß ich ihn kurz zur Seite nehmen und ihm zuflüstern konnte, daß auch ich ein Freund von Vodalus sei.
    »Du verwechselst mich, junger Sieur – meinst du Vodalus den Geächteten?«
    »Ich vergesse nie eine Stimme«, versetzte ich, »oder sonst etwas.« Und dann fügte ich in meiner Ungeduld spontan etwas hinzu, das vielleicht das Schlimmste war, was ich hätte sagen können: »Du wolltest mir mit deiner Schaufel den Schädel einschlagen.« Seine Miene wurde sofort maskenhaft starr, und er stieg in seinen Kahn und ruderte schweigend ins braune Wasser hinaus.
    Als Agia und ich den Botanischen Garten verließen, war Dorcas noch bei uns. Agia war darauf erpicht, sie zum Verschwinden zu bewegen, und eine Zeitlang ließ ich sie gewähren. Mich bewegte zum Teil die Befürchtung, durch Dorcas' Anwesenheit gelänge es mir nicht, Agia zum Beischlaf zu bewegen; mehr noch aber die dunkle Ahnung, wie schmerzlich es für Dorcas – verschreckt und verloren wie sie war – wäre, mich sterben zu sehen. Vor kurzer Zeit erst hatte ich Agia all mein Leid über den Tod von Thecla ausgeschüttet. Nun waren diese neuen Sorgen an seine Stelle getreten, und ich wurde gewahr, daß ich es wahrhaftig ausgeschüttet hatte, wie ein Mann bitteren Wein auf den Boden ausspie. Durch den Gebrauch leiderfüllter Sprache hatte ich mein Leid vorerst ausgelöscht – so mächtig ist er Zauber der Sprache, die alle Leidenschaften auf umgängliche Einheiten reduziert, die uns sonst des Verstandes berauben und vernichten würden.
    Was immer auch mein Motiv gewesen sein mag, was immer Agias Motiv gewesen sein mag, und was immer Dorcas' Motiv gewesen sein mag, uns zu folgen: nichts, was Agia versucht hat, hat geholfen. Zuletzt drohte ich ihr Prügel an, falls sie nicht aufhörte, und rief Dorcas, die etwa fünfzig Schritt hinter uns ging.
    Danach zogen wir drei stumm weiter, wobei wir gar manchen verwunderten Blick auf uns lenkten. Ich war völlig durchnäßt und kümmerte mich nicht mehr darum, ob mein Umhang den schwarzen Gildenmantel bedeckte. Agia in ihrem zerrissenen Brokat mußte fast so seltsam wie ich ausgesehen haben. Dorcas war nach wie vor schlammverschmiert – er trocknete an im lauen Frühlingswind, der nun über die Stadt strich, überzog ihr goldenes Haar mit einer Kruste und ließ auf ihrer blassen Haut pulverige braune Streifen zurück. Über unseren Köpfen schwebte wie ein Banner die Averne; es entströmte ihr ein harziger Duft. Die halb geschlossene Blüte strahlte noch weiß wie Gebeine, aber die Blätter wirkten fast schwarz im Sonnenlicht.

Das Gasthaus zur verlorenen Liebesmüh
    Zu meinem Glück – oder Pech, je nachdem – sind die Orte, an denen sich mein Leben größtenteils abgespielt hat, mit sehr wenigen Ausnahmen von höchster Beständigkeit geprägt gewesen. Ich könnte morgen, wenn ich wollte, zur Zitadelle zurückkehren und fände dort (glaube ich) noch dieselbe Pritsche vor, in der ich als Lehrling geschlafen

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