Der Schatten des Highlanders
bleibt.« Er sah sie an. »Trotzdem musste ich es versuchen.«
»Natürlich.«
Er streckte die Hand aus und schloss seinem Bruder die Lider. Schweigend blickte er einige Minuten auf ihn hinunter, dann suchte er ihren Blick. »Danke.«
»Ich wünschte, ich hätte etwas für ihn tun können«, sagte sie leise. »Es zeugt von seiner Stärke, dass er es geschafft hat, noch so lange zu überleben ...«
Sie wurde unterbrochen, als die Tür hinter ihr aufgerissen wurde. Die junge Frau, die zuvor schon ihrer Trauer freien Lauf gelassen hatte, stürzte herein, blieb taumelnd stehen und brach erneut in schrilles Schreien und Wehklagen aus.
Sunny stand auf, um ihr Platz zu machen, aber plötzlich spürte sie die Hände der Frau an ihrer Gurgel und wurde zu Boden gerissen. Vielleicht hätte Patrick ihr auch beibringen sollen, wie sie sich gegen eine mittelalterliche Clansfrau wehren konnte, die vor rasendem Schmerz vollkommen außer sich war.
Die Frau kratzte, biss und kreischte wie eine böse Fee. Sunny hörte, wie Cameron sie anbrüllte, dann spürte sie, dass er die Frau von ihr wegzerrte. Es gelang ihr, die Fäuste der Frau aus ihrem Haar zu winden, und sie setzte sich überrascht wieder auf.
»Sie hat ihn getötet«, kreischte die Frau, und ihre wilden Blicke zeugten von Kummer und Zorn.
»Hör auf, Gilly«, befahl Cameron und drückte ihr die Arme an die Seiten. »Das stimmt nicht.«
»Sie ist eine Hexe«, schrie Gilly und wehrte sich gegen ihn. »Ich werde mich rächen und sie töten.«
»Genug!«, herrschte Cameron sie an und versuchte, sie unter Kontrolle zu bringen. »Sie ist keine Hexe, und dein Mann war schon tot, noch bevor er vom Schlachtfeld getragen wurde.«
Sunny beobachtete, wie Gilly weiter um sich schlug, als wäre sie kurz davor, den Verstand zu verlieren. Ihr feuerrotes Haar war lang und strähnig und hing ihr wild vor dem Gesicht herunter, sodass sie wirklich wie eine Wahnsinnige aussah. Irgendwann kam sie Camerons Hand nah genug, um ihn beißen zu können. Cameron schrie auf und fluchte schrecklich, aber er ließ sie nicht los.
Sunny hörte, dass Gilly immer wirreres Zeug schrie, und fragte sich, ob jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt wäre, um nach Hause aufzubrechen. Sie stand zögernd auf. Es kam ihr respektlos vor, Cameron zu fragen, ob sie noch irgendetwas tun könnte, aber sie hatte wohl keine andere Wahl.
»Wenn Sie mich nicht mehr brauchen ...«, begann sie langsam.
Er wies mit dem Kopf Richtung Tür. »Lasst Euch unten etwas zu essen geben. Ich kümmere mich schon um sie.«
Sunny zögerte. »Es tut mir wirklich leid um Ihren Bruder.«
Ihre Worte lösten bei Gilly neuerliche Schimpftiraden aus. Cameron schüttelte nur den Kopf und neigte den Kopf noch einmal zur Tür hin. Sunny seufzte und ging über den unebenen Dielenboden durch die Kammer. Sie blieb im Türrahmen stehen und beobachtete, wie Gilly sich endlich aus
Camerons Armen befreite und sich auf Breac warf. Sie schüttelte ihn, als könne sie ihn dadurch wieder zum Leben erwecken.
Dann hielt sie inne und warf Cameron einen hasserfüllten Blick zu. »Das ist deine Schuld«, sagte sie kalt. »Du hast alles zerstört!«
Cameron verschränkte die Arme vor der Brust und sah Gilly nur schweigend und finster an.
Sunny schloss leise die Tür, bevor sie noch mehr mitanhören musste. Sie ging durch den langen Gang zurück, fand einen Abtritt, den sie rasch benutzte, und machte sich dann auf die Suche nach Wasser, um sich die Hände zu waschen.
Als sie in den Großen Saal kam, wurde es bei ihrem Eintreten ganz still. Männer in Plaids beäugten sie misstrauisch. Einer bekreuzigte sich, bevor er über seine Schulter spuckte. Andere folgten seinem Beispiel.
Nun, sogar sie wusste, dass das kein Zeichen von Wohlwollen war.
Sie versuchte zur Küche zu gelangen, bevor sie noch genauer begutachtet wurde. Aber wie sollten die Menschen eigentlich auch nicht glauben, dass sie eine Hexe war? Sie trug einen Gymnastikanzug, dazu einen langen, fließenden Rock aus maschinell gewebtem Leinen und war über und über mit Blut verschmiert. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie vor sich selbst Angst bekommen. Noch ein Grund mehr, sich unverzüglich auf den Heimweg zu machen.
Sie fand Wasser, wusch sich die Hände, bat um etwas zu essen und bekam einen Rest Suppe vom Abendessen und ein Stück altbackenes Brot. Sie aß und überlegte ihre nächsten Schritte. Das Vordringlichste war ganz klar, aus Cameron Hall zu verschwinden. Sie
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