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Der Schatten des Horus

Der Schatten des Horus

Titel: Der Schatten des Horus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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goldenes Licht. Birger Jacobsen stieg vorsichtig die schmalen, staubigen Stufen nach unten. Mit geheuchelter Begeisterung drückte er ein paarmal auf den Auslöser einer Digitalkamera. Bloß nicht auffallen.
    Mit ähnlichen Anlagen hatten schon die Pharaonen den Göttern in die Karten sehen wollen. Fast bei jedem Tempel gab es eine, in Kom Ombo, auf Elephantine. Dann, vor beinahe eintausenddreihundert Jahren, unterwarfen die Stellvertreter des Kalifen Amr Ibn el As das Land. Im Schatten der Pyramiden gründeten seine Krieger El Fustat, aus dem später El Qahira, Kairo, werden sollte. Mit den Truppen kam der Islam und die ausländischen Eroberer versuchten, die alten Götter zu überlisten. 715 nach Christus ordnete der Umayyadenkalif den Bau dieses Instruments an, mit dem sich in die Zukunft sehen ließ. In einem tiefen, durch Kanäle mit dem Fluss verbundenen Schacht errichteten seine Architekten eine Säule mit genauer Skala, um die Pläne der Götter vorauszusagen. Ein Wasserstand von zwölf Ellen bedeutete Hunger, dreizehn Genügen, vierzehn Freude und fünfzehn Überfluss. Stieg der Pegel des Nils zwischen September und Oktober auf sechzehn Ellen, war der Regen im heutigen Äthiopien besonders heftig gewesen. Schon bald würde der fruchtbare Schlamm sich auf die Felder legen, mit jedem Strich auf der Säule höher gelegene Felder erreichen. In den staubigen Straßen bejubelten die Menschen die kommende reiche Ernte. Die Mächtigen feierten in ihren Palästen und ließen ihre Wesire gierig die zu erwartenden hohen Steuern ausrechnen. Über sechzehn Ellen allerdings schlug der Überfluss in furchtbare Überschwemmungen um. Achtzehn bedeuteten eine Katastrophe.
    Aber Seth zürnte. Er wollte seine Pläne nicht im Voraus verkündet wissen. Der Gott des Chaos und des Verderbens schickte ein verheerendes Hochwasser und zerstörte die Anlage. Doch die neuen Herren verstanden die alten Götter nicht. 861 wurde alles an derselben Stelle wieder aufgebaut. Hier, wo er nun stand. Anfangs trommelten die Pegelwächter in den Straßen und verkündeten, wie der Nil stand und mit welcher Ernte die Bauern rechnen konnten. In guten Jahren beflügelten ihre Nachrichten das ganze Land, wie heute die Anzugträger an der Wall Street. Die Menschen gingen zufrieden ihrer Arbeit nach, bestellten das Feld und fegten die Kornkammern aus. Bald schon würden sie bis zum Rand gefüllt werden können. In jedem fünften Jahr aber, wenn Dürre oder Überschwemmungen erwartet wurden, prügelten sich Einheimische und Eroberer auf den Märkten um die letzten Säcke mit Weizen des Vorjahres. Die Preise stiegen in astronomische Höhen, die drohende Hungersnot schaltete die Gehirne aus, die Kalifen mussten um ihre Sicherheit fürchten. Den Blick in die Zukunft bezahlten viele ihrer Soldaten mit dem Leben. Nach nur wenigen Jahrzehnten wurde die Vorgehensweise drastisch geändert. Der Schacht wurde nun vor den Augen der Welt abgeriegelt, die Wächter durften nur noch dem Kalifen selbst und seinen Wesiren Bericht erstatten. Ihr Wissen behielten sie für sich.
    Birger Jacobsen nahm die letzte Stufe zur Plattform und lehnte sich in einen gemauerten Bogen. Genau das erwartete auch Tanaffus von ihm. Er wollte alles Wissen bei sich gebündelt sehen. Für den kommenden Tag hatte er Birger Jacobsen nach New York bestellt. Was wollte er von ihm? Was war so dringend, dass sie es nicht am Telefon besprechen konnten? Morgen. Morgen würde er dem Seth-Seher gegenübertreten und den letzten Zweifel beseitigen können, ob sich hinter der eisernen Maske das Gesicht von Theodorakis befand. Ein Problem musste er bis dahin jedoch noch lösen: Solange er in New York weilte, musste der Junge schachmatt gesetzt werden. Er sah auf die Uhr. Sein Mann war spät dran. Birger Jacobsen hasste Unpünktlichkeit. Wer gab einem Menschen das Recht, so fahrlässig mit der Zeit eines anderen umzugehen? Er sah sich um. Eine Horde Koreaner fiel über die steile Treppe in den Schacht ein. Unaufhörlich schwatzend knipsten sie sich gegenseitig vor dem Nilmesser. Als endlich alle offiziellen und selbst ernannten Führer ihr Bakschisch erschnorrt hatten, leerte sich die Grube. Mit kleinen, zögerlichen Schritten trippelte ein abgerissener Einheimischer die Treppe herunter und kam auf ihn zu. Seine dürren Beine steckten in einer dreckstarren Jeans, das langärmelige Hemd war löchrig und sicher schon lange aus der Mode gekommen, die Wangen waren eingefallen wie bei einem müden Trompeter. Als

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