Der Schatten des Horus
ist, dachte er. Woher kommt diese plötzliche Abkühlung? Tagsüber waren es noch vierzig Grad im Schatten gewesen.
Plötzlich hörte er ein leises Krächzen. Flügelschlagen. Ein Singvogel nahm schimpfend Reißaus. Etwas Buschiges landete auf dem Fensterbrett. Durch das grelle Licht im Raum konnte Sid nur seine Umrisse erkennen. Langsam drängte es sich durch die Stäbe in die Zelle. Es war ein Falke! Sid richtete sich auf und blickte sich erschrocken um. Alle seine Mithäftlinge schienen zu schlafen.
»Komm! Komm her!«, flüsterte Sid und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. Tatsächlich hüpfte der Vogel vom Sims auf den Tisch. Seine Krallen kratzten über das Furnier. »Sch!«, zischte Sid und legte den Finger auf die Lippen. Der Falke gehorchte und blieb stehen. Sid musterte ihn lange. Es war ein unglaublich schönes Tier, geradezu majestätisch. Kein Wunder, dass die Falkenzucht in vielen Ländern, gerade auch in den Golfstaaten, als hohe Kunst galt!
Sid streckte die Hand aus, um ihm über den Kopf zu streichen, zog sie aber sofort wieder zurück. Er hatte gesehen, welch tiefe Wunden der gewaltige Schnabel reißen konnte. Wie viele Minuten waren vergangen, bis Sid die Kapsel am Bein des Falken entdeckte? Hier im Knast schien sich die Zeit zu strecken, bis die Sekunden sich wie Stunden anfühlten.
»Darf ich?«, erkundigte er sich vorsichtig. Der Vogel legte den Kopf schief. Es sah wie eine Zustimmung aus. Langsam, um das Tier nicht zu verschrecken, löste Sid ein daumendickes Röhrchen. Seine Finger hatten Mühe, den feinen Riemen zu lösen, so sehr zitterten sie vor Aufregung. Als er es endlich geschafft hatte, den Verschluss zu öffnen, fiel ein klein zusammengerollter Zettel heraus. Das Papier war eng mit winzigen Buchstaben bedeckt. Die Unterschrift ein Lippenabdruck von Rascal. Während Sid die Zeilen überflog, krampfte sich sein Magen so schmerzhaft zusammen, dass ihm das Atmen schwerfiel.
Mein geliebter Sid!
Als du weg warst, wusste ich nicht mehr weiter. Die Bullen haben uns kurz verhört, dann laufen lassen. Konnte nicht erfahren, wohin sie dich bringen. Mit Yusuf noch einmal im Fushawi gewesen. Faux war da. Habe ihm alles erzählt, er war sehr besorgt. Bot mir an, dir diesen Brief zu übermitteln. Wie, sagt er nicht. Über ihn können wir Kontakt halten. Morgen Besuch in Botschaft. Keine Angst, ich haue dich raus. Muss ein Missverständnis sein. Gib auf dich acht. Bald bist du frei.
Kuss, Rascal
Der Schmerz in seinem Bauch entlud sich in einem gewaltigen Schluchzen. Mein geliebter Sid! Immer wieder las er die Zeile, Buchstabe für Buchstabe, bis die schwarze Tinte verlief. Dann wischte er sich die Tränen ab. Bald bist du frei. Frei. War er das jemals gewesen? Er nahm sich vor, den Knast zu überleben. Und dann würde er den Dämon besiegen. Niemand würde ihn mehr kleinkriegen, mit diesem Mädchen an seiner Seite! Auch wenn er immer noch kaum etwas über sie wusste, sein Her z – nei n – seine Seele hatte sich längst entschieden.
Zu allem entschlossen fuhr er sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Dann zog er die Locke aus der Tasche, die er vor dem Besen in der Gefrierkammer gerettet hatte, und steckte sie in die Kapsel. Wenn er schon nicht schreiben konnte, sollte sie doch wenigstens ein Lebenszeichen von ihm haben.
»Flieg, mein Freund, flieg!«, ermunterte er den Vogel. Der Falke erwachte aus seiner Starre. Mit einem einzigen Flügelschlag schwang er sich wieder auf den Fenstersims. Im nächsten Augenblick war er in der Nacht verschwunden.
37. Kapitel
New York, 19./20 . Oktober, Nacht
Birger Jacobsen erbrach sich auf die Madison Avenue, mehrere Passanten wichen ihm angeekelt aus. Sie mussten ihn für einen besoffenen Penner halten, dabei war es nicht billiger Schnaps, der ihn innerlich auffraß, sondern Angst. Entsetzliche Angst. Todesangst.
Sein Augenlid zuckte so heftig, dass er die Außenwelt nur noch wie einen stotternden Super-8-Film wahrnahm. Menschen und Autos bewegten sich abgehackt wie in den Aufzeichnungen einer Überwachungskamera, wie im Licht einer Stroboskopshow. Tanaffus hatte ihn nach New York zurückbefohlen. Der Seth-Seher wusste eine Menge, das war Birger Jacobsen klar. Wusste, dass er eigenmächtig nach Kairo gereist war, wusste, dass einiges an seiner Mission schiefgelaufen war. Aber in seinen Kopf konnte der Rüde nicht sehen. Ahnte er, dass Birger Jacobsen ihn beerben wollte? Kannte er die Untersuchungen zum Zellgedächtnis, die auch andere
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