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Der Schatten des Horus

Der Schatten des Horus

Titel: Der Schatten des Horus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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den er noch vor wenigen Minuten hinter der Maske vermutet hatte.
    Nein, so würde er nicht enden.

38. Kapitel
    Kairo, Tora Prison Complex, Freitag, 26 . Oktober, 1 2 Uh r 47
    Sid konzentrierte sich aufs Zählen. Der Hof war einhundertsechzehn Schritte lang. Zurück versuchte er, auf die gleiche Anzahl zu kommen, ein Unterfangen, das seine ganze Aufmerksamkeit forderte. Innerhalb von Sekunden wurden Pläne geschmiedet und wieder verworfen, eine neue Strategie skizziert, um dann doch zerrissen zu werden. Neue Fragen tauchten auf, neue Einschätzungen. Wie weit war es noch bis zur Mauer, seinem Ziel? Musste er die Schritte dehnen oder sollte er lieber ein wenig trippeln? Nein, er hatte sich verkalkuliert! Die letzten Meter sprang er fast, trotzdem blieb seine innere Anzeigetafel bei einhundertdreizehn stehen. Sid seufzte, ein neuer Versuch! Er drehte auf der Hacke um und marschierte zurück. Es ist nicht das Eingesperrtsein, das dich kaputt macht, dachte er, es ist die Nutzlosigkeit des Tages, die einen zermürbt.
    5.3 0 Uhr Wecken, 6.0 0 Uhr Frühstück. 6.3 0 Uhr Einsammeln des Geschirrs. Dann viereinhalb Stunden Langeweile. Mittagessen um 11.0 0 Uhr, ab 12.0 0 Uhr eine Stunde Auslauf im Hof. Dann Langeweile bis zum Abendessen, 22.0 0 Uhr Bettruhe im gesamten Trakt.
    Sid fluchte in sich hinein. Die Hälfte des Hofs hatte er schon überquert, aber dafür mehr als siebzig Schritte gebraucht. Konnte man sich nicht einmal mehr auf seine Beine verlassen? Dreiundzwanzig Stunden lang warteten alle hier drin auf ihr kleines bisschen Freiheit, aber wenn sie kam, mochte sich bei niemandem richtige Freude einstellen. Alle positiven Gefühle sind dem Häftling mit seiner Zivilkleidung abzunehmen und erst bei der Entlassung wieder auszuhändigen! So stand es wahrscheinlich in den Anstaltsstatuten.
    Sid sah vom Beton auf. Die anderen Häftlinge hockten in Gruppen zusammen, einige diskutierten wild, wobei sie sich große Mühe gaben, nicht zu aufgeregt zu wirken. Gespräche mit anderen Gefangenen waren erlaubt, Streitigkeiten aber wurden mit Einzelhaft im sogenannten Loch bestraft. Wachen mit umgehängten Maschinenpistolen patrouillierten hoch über ihren Köpfen. Kein Mitgefangener winkte Sid zu sich, er war der einzige Nichtaraber hier. Also startete er eine weitere einsame Runde, ein s – zwe i – dre i – vier.
    Sid zog an dem Strick, den er anstelle eines Gürtels bekommen hatte. Zwanzi g – einundzwanzi g – zweiundzwanzi g – dreiundzwanzig. Die Hose schlotterte immer mehr um seine Beine. Schnell hatte er sich an die ungenießbare Pampe gewöhnt, die es täglich dreimal gab, und schlang sie genauso hastig wie die anderen in sich hinein. Besonders nahrhaft schien sie nicht zu sein. Ein Wunder, wie es ein Riese wie Mahmud geschafft hatte, so lange davon zu überleben. Sechsundvierzi g – siebenundvierzi g – achtundvierzi g – neunundvierzig.
    Fünf Tage waren vergangen, seit der Falke bei Sid gewesen war. Fünf Tage Warten. Auf eine weitere Nachricht, auf einen Besuch, auf eine Unterbrechung der Routine. Zweiundsiebzi g – dreiundsiebzi g – vierundsiebzig. Schier verrückt machte es ihn, nicht zu wissen, wie es weitergehen sollte. War Rascal schon in der Botschaft gewesen? Hatte sie einen Anwalt aufgetrieben? Konnte er von Faux etwas erwarten? Hundertvie r – hundertsech s – hundert… Scheiße! Jetzt hatte er sich auch noch verzählt! Der Versuch, seinen Fehler wiedergutzumachen, wurde ihm nicht gestattet. Die Sirene heulte, Ende des Auslaufs.
    Als sie in ihre Zelle zurückgetrieben worden waren, erwartete die sieben Gefangenen eine Überraschung. Auf dem bislang noch freien Bett, das Kopf an Kopf mit Sids Pritsche stand, hockte ein schmächtiger alter Mann von vielleicht fünfundsiebzig Jahren. Er konnte kein Neuankömmling sein, denn die rasierte Glatze war längst zugewachsen.
    Sid war sofort aus seiner Lethargie gerissen. Die schwarzen Augen des Greises wirkten nicht gebrochen, wie die der anderen Gefangenen. Sie strahlten eine vornehme Würde aus, die kein Schließer wegprügeln konnte. Auch vom Rest seiner Erscheinung passte er nicht zu den rohen Kerlen im Trakt, selbst die graue Anstaltskleidung sah an ihm irgendwie vornehm aus. Mahmuds sicherlich beleidigenden Begrüßungsworte quittierte er mit einem feinen Lächeln. Die anderen wechselten ein paar Worte mit ihm, aber ihr Interesse ließ schnell nach. Wahrscheinlich hatten sie nur die üblichen Daten abgefragt: Warum? Wie lange schon? Wie lange noch?

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