Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Horus

Der Schatten des Horus

Titel: Der Schatten des Horus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
zerbrechlich wirkte sie. Zerbrechlich, faltig, hundertundvierjährig und von bescheidener Eleganz.
    Alex konnte nicht anders, sie fiel auf die Knie und drückte ihre Urgroßmutter an sich. Scham stieg in ihr hoch. Wie lang lag ihr letzter Besuch zurück? Wann hatte sie das letzte Mal angerufen? Weihnachten, siche r – aber welches Jahr?
    »Setz dich, mein gutes Kind«, forderte die zerbrechliche Stimme sie auf.
    Alex Whitfield wischte sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel und rutschte neben Rose auf das Kanapee. Die Ränder des Stoffs waren schon abgenutzt gewesen, solange sich Alex erinnern konnte.
    »Sicher wunderst du dich, warum du heute so dringend zu mir kommen solltest!?« Rose Washington legte ihre Hände auf die Knie ihrer Urenkelin. Ihr Kopf wackelte leicht hin und her und verriet so ihre große Anspannung.
    Alex wusste nicht, ob sie nicken durfte. War es nicht ein ganz normaler Wunsch, ab und zu seine Verwandten zu sehen, und nicht nur wildfremdes Pflegepersonal?
    »Heute ist der hundertste Todestag meiner Mutter!«, erklärte Rose feierlich.
    Alex zuckte zusammen. Sie fürchtete sich vor quälend langen Vorträgen über das Sklaven-, Diener- und Niggerzeitalter, einem Teil der Geschichte ihres Landes, den sie endgültig verlassen zu haben glaubte. Nicht einmal in Erzählungen wollte sie dahin zurückkehren.
    Say it loud, I’m black and I’m proud!
    »Ich habe nun selber nicht mehr lange zu leben un d …«
    »Rose!«, unterbrach sie Alex mit gespielter Empörung, wie es alle Menschen taten, wenn die Rede auf den Tod kam, aber ihre Urgroßmutter lächelte weise.
    »Nein, nein, lass nur. Ich spüre, dass es mit mir zu Ende geht. Aber bevor ich in Frieden meine Augen schließen kann, muss ich jemandem von dieser Nacht erzählen.« Roses Augen füllten sich mit Tränen.
    Alex nahm ihre Hand und streichelte sie. »Du meinst die Nacht, in der deine Mutter starb, nicht wahr?«
    Rose hatte sich wieder gefasst und fuhr fort. »Es war also der 25 . Juni 1906. Sugar war mit zwanzig eine sehr junge Mutter, wenn man bedenkt, dass ich damals schon fast fünf war. In dieser Zeit standen uns Schwarzen nur sehr wenige Berufe offen. Aber meine Mutter war fleißig und sie verstand es, sich trotz unserer Armut ordentlich zu kleiden und zu benehmen.«
    Rose wollte sich Tee nachschenken. Viel zu spät bemerkte Alex, dass die Hälfte auf die Spitzentischdecke lief. Ohne die Tasse anzurühren, erzählte Rose weiter.
    »So ließ man sie als Serviererin in den guten Hotels der Stadt arbeiten, wo nur Weiße verkehren durften. An besagtem 25 . Juni hatte sie eigentlich ihren freien Tag und mir versprochen, zum Meer zu fahren. Doch es kam anders. Als wir gerade aufbrechen wollten, platzte ihre Freundin Betsy in unser Zimmer. Ich verstand nur, dass sie am Abend ein e … Verabredung mit einem Mann hatte, und deshalb nicht zur Arbeit gehen konnte. Geh du für mich, Sugar , bat sie, und legte einen Dollar auf den Tisch. Einen Dollar! Das war damals eine Menge Geld für uns! Was sie noch sagte, war sicher nicht für meine Ohren bestimmt gewesen: Er ist reich. Er ist weiß!
    Aus ihrer Tasche zog sie ein wunderschönes Kellnerinnenkostüm. Sie werden nichts merken, die finden doch sowieso, dass wir Schwarzen alle gleich aussehen! , sagte sie lachend. Hätte meine Mutter nur ablehnen können! Da sie nicht wusste, wohin mit mir, nahm sie mich mit in den Madison Square Garden. Dort musste ich dann den ganzen Abend still unter dem Tresen sitzen, während meine Mutter Mäntel und Jacken entgegennahm. Beim ersten Wort, hatte sie mich ermahnt, würde sie mich eigenhändig erwürgen! So kauerte ich also im Halbdunkel und dachte ans Meer.«
    Sichtlich aufgewühlt von ihren Erinnerungen griff Rose Washington nach ihrem Tee. Die Tasse klapperte auf dem Unterteller.
    »Aber du bist nicht still geblieben?«, hakte Alex Whitfield nach.
    Ihre Urgroßmutter schüttelte den Kopf. »Kein einziger Ton ist über meine Lippen gekommen an dem Abend! Ich habe weder gegen das feine Holz getreten noch mit den Schuhsohlen auf den Dielen geklappert. Ich war leiser als mein Schatten!« Rose lächelte selig bei dieser Erinnerung, doch plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. »Die Vorstellung hatte längst begonnen. Mamselle Champagne , wie ich heute weiß, es stand ja dann in allen Zeitungen. Die Musiker spielten, die Zuschauer lachten und ich dachte, ich könnte nun endlich aus meinem Versteck hervorkommen. Plötzlich aber hallten Schritte durch

Weitere Kostenlose Bücher