Der Schatten des Horus
Wachen zu achten, an seiner Kette gezogen? All das las Sid in der sich weitenden Pupille, und ein kleines bisschen Respekt, wenn auch aus Gründen, die Sid verabscheute. Knurrend wandte sich Mahmud ab, kletterte auf sein Hochbett und thronte dort wie ein afrikanischer Operettenkaiser, jeden seiner Untertanen im Blick.
Sid streckte sich auf seiner Pritsche aus und sah sich möglichst unauffällig um. Zu behaupten, dass die Zelle mit sieben Mann überfüllt war, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Wie Hühner in einer dieser bestialischen Legebatterien waren die Gefangenen hier zusammengepfercht. Menschenrechte bitte an der Tür abgeben! Außer einem winzigen Tisch, zwei Stühlen und vier verbeulten Spinden gab es aus Mangel an Platz keine weiteren Möbel. Keine Bücher, keine Zeitschriften, kein Radio, kein Fernsehen. Was taten die Männer hier den ganzen Tag? Sid hätte sich gerne nach dem Tagesablauf erkundigt, aber vermutlich sprach und verstand keiner von ihnen mehr als ein paar Brocken Englisch. Außerdem sollte er wohl besser so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen. Sid merkte, wie sein Blick an einer angeketteten Blechschüssel gegenüber den Betten hängen blieb, daneben im Boden gähnte ein kreisrundes Loch. Der Mann mit der Boxernase tat ihm den Gefallen, das Rätsel zu lüften. Mitten im Raum zog er sich die Hose runter, ging in die Hocke und schiss. Mit der Schüssel kippte er Wasser hinterher. Sid war wie vom Donner gerührt. Er schüttelte sich. Noch nicht einmal dabei hatte man hier seine Privatsphäre! Es war barbarisch!
Als sich der Gestank ein wenig verzogen hatte, knallte vorne an der Tür eine Klappe in den Raum, das Fenster wurde geöffnet. Der eben noch herumlümmelnde Haufen stellte sich in Windeseile in einer Reihe auf, Mahmud ließ man an die Spitze. Im Takt einer klappernden Suppenkelle wurden blecherne Näpfe auf das Brett in die Zelle geschoben. Jeder beeilte sich, so schnell wie möglich zuzugreifen, sonst drohte das Essen vom nachfolgenden Napf auf den Boden gestoßen zu werden. Sid nahm seine Portion als Letzter in Empfang. Kaum hatte er die Schüssel in der Hand, als die Klappe wieder eingezogen wurde. Angeekelt musterte Sid den grauen Brei. Am Rand des Tellers klebten verkrustete Essensreste. Voller Sehnsucht dachte er an das Frühstück im Café Riche zurück, von dem er nicht einen Krümel angerührt hatte. Jetzt knurrte ihm der Magen, und er schwor, sich vor den anderen keine Schwäche zu geben, die bereits mit gewaltigem Heißhunger alles in sich hineinschaufelten.
Sid hockte sich auf sein Bett und stocherte mit dem verbogenen Löffel in der Masse herum. Wie Kitt blieb die Pampe daran hängen. Nach mehrfachem lustlosem Umrühren entdeckte Sid etwas Schwarzes. Entsetzt hob er einen dicken Käfer ans Licht. Angewidert warf er die Schüssel vor sich auf den Boden. Während Sid noch versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken, sprang einer seiner Mitgefangenen auf, holte den Napf und reichte ihn zu Mahmud auf den Thron. Mahmud griff mit bloßen Fingern hinein, hob den Käfer theatralisch an den Mund und biss ihn in der Mitte durch. Gelber Saft lief ihm am Kinn herunter.
Sid hatte genug. Vor seinen Augen verschwamm alles. Er fiel auf die Knie, robbte zu dem Loch und hängte sich darüber. Unter dem Gelächter seiner Zellengenossen kotzte er alles aus. Seine Eltern, seinen Patenonkel, den verfluchten Kult, die Polizisten, die Wachmänner, selbst Faux, der ihn so salbungsvoll zum Durchhalten überredet hatte. An Sid Martins, geboren am 26 . Juni 1992, würgte er herum. Aber ihn wurde er nicht los, hier in Kairo, über einem Loch im Beton kauernd. Und auch das Mumienherz blieb, wo es war.
35. Kapitel
New York, Harlem, 25 . Juni 2006
Alex Whitfield kam ungern hierher. Sie hasste den Geruch dieses Altenheimzimmers, eine Mischung aus Mottenkugeln, Maiglöckchenparfüm und Desinfektionsmitte l – der Geruch des herannahenden Todes. Sie hatte ihre jüngere Schwester Eliza schicken wollen, aber ihre Urgroßmutter hatte darauf bestanden, sie zu sehen. Sie, und sonst niemanden.
Rose Washington saß auf dem grünen Samtsofa, ganz links, als eine der Pflegerinnen Alex hereinführte. Die alte Dame war nie nachlässig gekleidet gewesen, aber heute hatte sie sich wie für einen offziellen Anlass zurechtgemacht. Sie trug ein blaues Kostüm mit silberner Brosche, ihre schütteren weißen Locken waren unter einem Haarnetz an den Kopf gedrückt. Alex musste schlucken, so
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