Der Schatten des Horus
Abd-er-Rassoul rollte sich auf die Seite. »So ist es. Seit einem halben Jahr sitze ich in ›Beugehaft‹ oder wie sie es nennen. Ich soll gebrochen werden. Ich soll das Geheimnis verraten, das meine angebliche Familie seit fünfhundert Jahren hüte t – dabei ist das alles ein schrecklicher Irrtum! Mein Leben lang war ich noch nicht einmal in Deir el-Bahira! Ich war nur ein einfacher Friseur hier in Kairo!« Er zwinkerte Sid zu. Sid nahm es als Zeichen, dass der Greis seinem Schicksal nicht böse wa r – was konnte man schon gegen Allahs Willen tun?
»Jetzt habe ich noch eine letzte Woche hier drin, länger kann man mich selbst in Ägypten nicht einfach so einsperren.«
Sid freute sich für den alten Mann. Er selbst wäre froh gewesen, seinen Entlassungstermin zu wissen, nichts war schlimmer, als diese Ungewissheit. »Gratuliere, die sieben Tage bekommen Sie jetzt auch noch herum!«
Husni lächelte. »Warten wir es ab. Es hat in den letzten Jahren ein paar aufsehenerregende Fälle hier im Tora gegeben.«
Sid verstand nicht. »Aufsehenerregend? Was soll das heißen?«
»Folter, bedeutet das«, erwiderte der Alte und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Tote Häftlinge, die gestern noch kräftig waren wie eine Dattelpalme. Amnesty international beobachtet das Gefängnis sehr aufmerksam, aber wenn ich nun herumpöble und meine Mitgefangenen beleidig e …«
Sid zuckte zusammen. »Sie meinen, die Verlegung in unsere Zell e …«
»… hat erzieherische Gründe, ja. Die Kerle da sollen mich in die Mangel nehmen, fürchte ich, vielleicht alle sechs, vielleicht auch nur einer. Gegen kleine Hafterleichterungen übernimmt fast jeder hier drin die Arbeit für die verhinderten Folterknechte!«
Augenblicklich wurde Sid übel. »Da s … das ist j a …« Die Wut schnürte ihm die Kehle zu. Seine Fäuste ballten sich von alleine. Er fühlte, wie er jetzt aufspringen und Mahmud wie einen Sandsack bearbeiten musste.
Husni Abd-er-Rassoul fiel ihm in den Arm und lächelte verkniffen. »Man muss alles nehmen, wie es kommt.« Er seufzte tief. » Malesh . Allahs Wege sind unergründlich.«
39. Kapitel
New York, 26 . Oktober, 6 Uh r 30
Birger Jacobsen steuerte den braunroten BMW durch die Betonwüste Manhattans, auf dem Beifahrersitz kauerte Theodorakis. Fünf Tage lang war er der unmenschlichen Folter ausgesetzt gewesen, vor ein paar Stunden hatte Tanaffus den Prozess rückgängig gemacht, in der sechsten ägyptischen Morgenstunde, der Stunde Seths, hier in New York bedeutete das dreiundzwanzig Uhr.
Zermürbt von Angst und Qualen hob der Arzt die Hand, als sie sein Haus erreicht hatten. Birger Jacobsen achtete nicht auf das sofort einsetzende Hupen, unbeirrbar blieb er mitten auf der Straße stehen, ging um den Wagen herum und half dem Mediziner auszusteigen. Panajotis Theodorakis hängte sich mit beiden Händen an ihn, mühevoll setzte er einen Schritt vor den anderen, sie kamen kaum voran.
Jetzt galt es, good cop, bad cop zu spielen. Birger Jacobsen tätschelte dem Arzt die Wange. »Ruhen Sie sich aus!«, sagte er freundlich. »In der kommenden Woche werden Sie in Ihr Krankenhaus zurückkehren und die Arbeit wieder aufnehmen. Wir, der Junge, Setepenseth brauchen Sie!« An der Wohnungstür hob der Arzt den müden Kopf und sah ihm in die Augen. Birger Jacobsen fuhr sein Blick bis ins Mark. Schnell eilte er die Stufen zu seinem Wagen zurück. Nur diesem Blick entkommen.
Auf dem Weg zum Flughafen dachte Birger Jacobsen an den Tag zurück, an dem er den Herzchirurgen zum ersten Mal getroffen hatte. 2003 war das gewesen, nachdem er das Mumienherz aus dem brennenden Bagdad gerettet hatte. Um es mit frischem Blut zu durchspülen, hatte Theodorakis es in Zwischenwirte eingesetzt, nutzlose Menschen, die niemand vermisste. Doch nach kurzer Zeit waren sie ausgezehrt von der Lebensgier des zuckenden Muskels, ihre Körper verdörrt und ausgesaugt, wie bei einer Mumie. Das letzte Opfer hatte die New Yorker Polizei aus dem Hudson gefischt, am Tag bevor der Junge ins Krankenhaus kam.
Alle Operationen hatte Theodorakis hervorragend ausgeführt. Und er kannte die richtige Formel, das Mundöffnungsritual: » Wen ra’ek chetemu. Wepi’eni su em debehu en Seth wepiu ra’u en netjeru imu. Seth, wepi ra! Seth, wepi ra! «
Ja, er konnte vieles. Sie brauchten ihn noch. Und Birger Jacobsen brauchte eine neue Theorie, wer Tanaffus war.
40. Kapitel
Oh jauchzet und springet!
Jemand spricht die Worte, die mich wecken.
Oft habe ich
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