Der Schatten des Horus
schloss leise die Tür auf.
»Meine Frau schläft«, wisperte er. »Und die Kinder natürlich auch.« Er zeigte auf eine schmale Tür. »In der Kammer ist ein Bett für unsere Gäste. Da könnt ihr die Kapsel in Ruhe aufmachen und euch über den Inhalt beraten. Und versucht ein wenig zu schlafen.«
Sid wollte schon auf die Tür zugehen, aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Yusuf. Nie haben wir dir etwas gesagt, und nie hast du gefragt. Aber heute hast du bewiesen, wie wichtig du für uns bist. Dieses Geheimnis hier«, er hielt Yusuf die Lederkapsel unter die Augen, »das lösen wir gemeinsam!«
Yusuf warf ein paar Holzscheite auf die noch glimmende Kohle im gemauerten Herd und kochte Tee in einer silbernen Kanne. Im hohen Bogen goss er drei Gläser voll.
Sid hatte den Behälter mittlerweile von allen Seiten untersucht. Ein kleines, fast unsichtbares A war mit einem Messer oder sehr spitzen Nagel eingeritzt worden. A wie Attila? Mit leichtem Druck gelang es Sid, die beiden Teile auseinanderzuziehen. Ein eng beschriebener Zettel fiel heraus, dazu eine Tonscherbe, etwa drei Finger breit. Sid las den anderen beiden Nagys einhundertfünzig Jahre alte Nachricht vor.
Jószef, ich habe gefunden, was alle suchen, und jetzt auch du! Leider war die Kammer des Wissens leer. Verzeih, falls ich dich mit der Karte im Buchdeckel nervös gemacht habe. Aber ich wollte sichergehen, dass du meinen Hinweisen um die halbe Welt wirklich nachgehst. Doch wir sind noch längst nicht am Ziel. Wo eine Große Pyramide ist, ist auch ein Großer Tempel. Dein Freund Attila.
Die Rückseite war leer.
»Was soll das nun wieder bedeuten?«, stöhnte Rascal, bevor Yusuf sie an ihr Schweigegelübde erinnerte. »Karte im Buchdeckel?«, fügte sie leiser hinzu. »Da war doch gar keine.«
»Woher willst du das wissen?«, flüsterte Sid. »Wir konnten ihn doch nicht richtig untersuchen, erinnerst du dich? Jemand anderes wird sie gefunden haben, und der liegt nun vierzig Meter unter der Sphinx.«
Yusuf sagte nichts. Er studierte die Scherbe. Sid beugte sich zu ihm. »Das hier ist eindeutig ein Papyrusboot«, erklärte Yusuf. »Und darauf fährt ein Mann, ein bärtiger Mann. Es ist Nacht, denn über ihm leuchten Sterne. Und er fährt nicht auf dem Nil, das ist das Meer.«
Rascal nickte. Ihre Augen blitzten so hellwach, als hätten sie sich nicht schon die halbe Nacht durch den Wüstensand gegraben. Wie machte sie das bloß?
»Der Mann befördert etwas«, sagte sie langsam. »Kugeln oder so. Und einen großen Krug mit etwas drin.«
»Das sind keine Kugeln«, wurde Sid schlagartig klar. »Das sind Schriftrollen von der Seite gesehen. Der Bärtige schmuggelt den Inhalt der Kammer des Wissens aus Ägypten raus.« Er kratzte mit dem Daumennagel über die Scherbe, ein kleiner Schmutzfleck löste sich. Jetzt war auch der Inhalt des Krugs für alle deutlich zu erkennen.
Es war ein Herz.
62. Kapitel
Giza-Plateau, 7 . November 2007, 5 Uh r 30
Etwas lief an Birger Jacobsens Gesicht herunter wie Ameisen, die sich jagten. Über seiner linken Schläfe pulsierte eine Geschwulst, mit jedem Herzschlag plusterte sie sich weiter auf. Schläge trafen seine Wangen, dann wieder Ameisen. Er atmete schwach.
Mühevoll schlug er ein Auge auf, grelles Licht blendete ihn und sorgte für ein migräneartiges Klopfen hinter seiner Stirn. Ein riesiger schwarzer Schnurrbart beugte sich über ihn.
»Kommen Sie, wir müssen hier weg!«, murmelte Ali. »In einer halben Stunde sind die Kameltreiber zurück. Wenn man uns hier findet, ist die Hölle los!«
Birger Jacobsen fühlte, wie ihn zwei Hände unter den Achseln packten und in die Höhe hievten. Seine Beine schleiften hinter ihm her, als gehörten sie nicht zu seinem Körper. Er blinzelte. Ali zog ihn aus der Kathedrale des Wissens heraus in den Vorraum.
»Wart e …!«, bat Birger Jacobsen mit flacher Stimme. »Lass mic h … kurz ausruhe n …!«
Ali stand vor ihm, in der Aufmachung, mit der er sich vor Wochen für den Jungen und seine Begleiterin unsichtbar gemacht hatte: als Wasserverkäufer. Niemand beachtete diese Männer, die wie Ampeln und Verkehrsschilder zu jeder Kreuzung gehörten.
»Waru m … hast du mir nicht s … von deinem Landsmann erzählt?«, hüstelte Birger Jacobsen.
Ali zuckte mit den Schultern. »Ich sollte den Jungen und das Mädchen beobachten. Der andere war bloß ihr Chauffeur, ein Niemand, ihn habe ich nicht weiter beachtet.– Und jetzt los, die Zeit drängt!«
Birger Jacobsen nickte
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