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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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habe es ihm geradezu aufgedrängt. Berndorf meinte sanft, es wäre für die JVA Mariazell im gegenwärtigen Stadium sehr hilfreich, mit der Polizei in aller erdenklichen Weise zusammenzuarbeiten.
    »Ich mache Ihnen Kopien davon«, rang sich Krummsiek durch.
    Eine halbe Stunde später fuhr Berndorf nach Ulm zurück, kam aber trotzdem zu spät zur Dienstbesprechung. Englin zuckte missbilligend zweimal mit dem Augenlid, und Blocher nickte bekräftigend und tadelnd dazu. Tamar, die mit missmutiger Miene am Tisch saß, schüttelte nur leicht mit dem Kopf, was bedeuten sollte, dass Berndorf nicht viel versäumt hatte.
    Berndorf erstattete kurz Bericht, dann meinte Englin, dass die Reise nach Ravensburg wohl recht überflüssig gewesen sei: »Die Kollegen dort haben die Sache ja offensichtlich im Griff.« Es sei ja auch ihr entsprungener Häftling. Und da die Stuttgarter Kollegen die Thalmann-Tochter ins Auge genommen hätten, wie Frau Wegenast veranlasst habe, »geht uns in Ulm die Sache eigentlich gar nichts mehr an«. Berndorf solle sich doch bitte am Nachmittag mit dem Ersten Staatsanwalt
Desarts in Verbindung setzen, der reklamiere wegen des toten Mannes aus Görlitz, »falls Sie sich doch nicht geirrt haben und es da wirklich ein Fremdverschulden gibt«.
    In seinem Büro erzählte ihm Tamar kurz von ihrem Gespräch mit Hannah. Das mexikanische Abendessen und das kurzzeitige Du sparte sie aus.
    »Und sonst kein Ärger?«
    »Nichts von Belang, rein privat, my dear Watson«, sagte Tamar abweisend.
    In der Dienstpost fand sich ein Brief aus Görlitz mit einem Foto Heinz Tiefenbachs. Es war offenbar der vergrößerte Abzug eines Ausschnittes aus einer Amateuraufnahme und zeigte einen Mann, der gezwungen in die Kamera lächelt, etwas verlegen oder auch abweisend. Berndorf rief in Görlitz an, um sich zu bedanken. Rauwolfs Stimme klang distanziert. Berndorf erzählte ihm kurz, warum er in Ravensburg gewesen war. Schon deshalb, dachte er sich, weil vermutlich jeder Fernsehsender am Abend über den Fall berichten würde.
    »Schön, dass so etwas nicht nur bei uns passiert«, sagte Rauwolf versöhnlich. Berndorf erinnerte sich: Das sächsische Justizministerium hatte erst vor kurzem einen bundesweit bekannten Hochstapler als Anstaltspsychiater eingestellt.
    »Im Übrigen – etwas Neues haben wir auch«, fuhr Rauwolf fort. »Habe ich Ihnen gesagt, dass Tiefenbach in einem Altbau gewohnt hat, der sonst leer steht? Wir haben viele solche Häuser.« Vorgestern nun habe sich ein Nachbar gemeldet, der eine Wohnung gegenüber der von Tiefenbach habe und ihn von früher, von der Arbeit bei den Bahnwerken her kenne.
    »Der Mann hat am 20. Januar, einem Dienstag, bei ihm angerufen, aber es hat niemand abgenommen. Das hat ihn gewundert, weil er aus seinem Fenster gesehen hat, dass bei Tiefenbach Licht war. Na ja, da hat er sich halt gedacht, der alte Knabe hat sich ein Mädchen auf die Bude genommen.«
    Berndorf zögerte. Hätte er gewusst, wo er am 20. Januar
gewesen war? Richtig, dachte er dann, da war ich auf der Tagung, in Münster-Hiltrup. »Ihr Zeuge erinnert sich aber gut«, meinte er dann.
    »Ja«, sagte Rauwolf, »ich war auch skeptisch. Aber der Mann war auf Montage gewesen und hat sich sofort gemeldet, als er das von Tiefenbach gehört hat. Und an den 20. Januar kann er sich so gut erinnern, weil Dortmund gegen Bayern gespielt hat. Deswegen hat er ja auch angerufen: ob sie es zusammen im Fernsehen anschauen wollen.«
    Stimmt, dachte Berndorf. Am 20. Januar hatten die Bayern gegen Dortmund gespielt. Er hatte es in der Kneipe in der Münsteraner Altstadt angesehen, zusammen mit Mordechai Rabinovitch von der Universität Tel Aviv.
    Merkwürdigerweise war Rabinovitch Bayern-Fan.
     
    Erster Staatsanwalt Eduard Desarts war ein dunkelhaariger Mann mit einem von scharfen Linien gekerbten Gesicht und einer Neigung zu Magengeschwüren. Irgendwann hatte er sich das Rauchen abgewöhnt. Seither stand auf dem Besprechungstisch in seinem Büro eine Bonbonniere mit Karamellbonbons. Er bot sie an, wenn ein Gespräch ins Stocken geriet. Oder wenn er die Stimmung entspannen wollte. Oder wenn er selber Lust auf eines hatte.
    »Nehmen Sie sich doch eins«, sagte er zur Begrüßung und wies auf die Bonbonniere.
    »Danke«, sagte Berndorf und dachte an seine fünf Kilo Übergewicht. Vermutlich waren es sechs.
    Dann sprachen sie zuerst über Thalmann. Berndorf erzählte aus Ravensburg und von dem Gespräch mit dem Anstaltspsychologen. Desarts wurde

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