Der Schatten des Schwans
als filmischem Höhepunkt. Mit Genugtuung sah Halberg ein eingeblendetes Foto von 1981, das damals zu Beginn der Verhandlung vor der Schwurgerichtskammer gemacht worden war. Zu sehen war darauf vor allem er, Halberg, mit sehr sachlichem, sehr aufmerksamem Gesichtsausdruck, wie er fand; dahinter Thalmann auf der Anklagebank, blass und mit den zu langen Haaren, die man damals noch trug.
Der Kommentator sprach vom fidelen Knast von Mariazell
und ließ dunkel durchblicken, dass die Affäre vielleicht sogar Konsequenzen in der Landesregierung haben müsse; der Justizminister war den Hardlinern der Staatspartei schon länger ein Dorn im Auge.
Lange würde Thalmann ja wohl nicht in Freiheit bleiben, dachte Halberg und überlegte sich, ob und wie er ihn dann im Prozess um die Mariazeller Vorgänge verteidigen würde. Dann fiel ihm ein, dass Thalmann kaum noch einmal auf seine Dienste zurückgreifen würde. Seufzend holte er sich aus dem Seitenfach seines Schreibtischs die Cognac-Flasche und einen Schwenker und schenkte sich maßvoll ein. Seine Sekretärin war bereits gegangen; sie hatte auch nichts mehr zu tun gehabt. Aus alter Gewohnheit verbrachte Halberg einen Teil der Abendstunden in seiner Kanzlei; er war Junggeselle, und die jungen Männer, von denen er sich noch ab und an einen leistete, fanden sich erst später in der Bierbar ein, die derzeit der Ulmer Umschlagplatz für diese Art Dienstleistungen war. Für 19 Uhr hatte sich ein Besucher angemeldet; der Mann hatte der Sekretärin am Telefon gesagt, er wolle sich wegen eines Wiederaufnahmeverfahrens beraten lassen.
»Okay, ist ja recht«, sagte Holaschke. Sorgfältig zog er sich das Toupet über den kahlen Schädel und strich sich die falschen Haare zurecht. Dann klopfte er sich Hosenbeine und Ärmel ab. »Aber von diesen Tropfen weiß ich wirklich nichts. Keiner im Milieu würde so etwas zulassen. Jedenfalls keiner, der etwas zu sagen hat. Am besten ist, Sie sprechen mit dem Kapo. Wenn Sie wollen, rufe ich an und frage, ob er mit Ihnen redet.« Felleisen nickte. Holaschke holte an der Theke ein Handy und wählte. »Ich habe die Polizei hier«, sagte er dann, ohne erst seinen Namen zu nennen. »Es ist Felleisen, und eine Frau. Offenbar gibt es Leute, die mit K.-o.-Tropfen arbeiten. Und einen Toten gibt es auch.«
»Nein«, sagte er nach einer Pause. »Bei mir kann es nicht passiert sein. Kann ich die beiden zu dir schicken?«
Kurz darauf schaltete er das Handy wieder ab. »Der Kapo will mit Ihnen reden«, sagte er zu Felleisen. »Sie kennen ja den Weg.«
In seiner Wohnung goss sich Berndorf einen Tee auf; unter den Nachwirkungen von Kastners Zwetschgenschnaps hatte er am Morgen beschlossen, ein paar Tage lang keinen Whisky anzurühren. Vier oder drei Tage lang. Jedenfalls zwei.
Aus seinem Fenster sah er, dass Nebel über der Stadt lag. Irgendwo dort draußen wohnte unerkannt und unverdächtig, als Bürger unter anderen ehrbaren Bürgern, der Mensch, den Heinz Tiefenbach in den letzten Tagen seines Lebens aufgesucht hatte und bei dem er den Tod gefunden hatte. Und der Mörder aß gerade zu Abend und schenkte sich ein Bier ein, oder er achtete darauf, dass der Wein die richtige Temperatur hatte. Vielleicht saß er auch vor dem Fernseher und sah zu, wie ein Talkmaster einen anderen Talkmaster interviewte, oder er hatte eine CD aus dem »Ring«-Zyklus aufgelegt, und seine Frau las einen historischen Roman. Oder in einem Hochglanz-Magazin einen Beitrag über neue Rosenzüchtungen.
Auf dem Fensterbrett lag sein Montaigne-Band, mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten. Eine alte Unsitte, die Barbara hasste. Er fing im Stehen an zu lesen. Jeden Tag ein paar Sätze zum Weiterdenken. Manchmal kam die Stimme des Alten wie aus dem Nebenzimmer. Oft forderte sie auch seinen Widerspruch heraus.
»So überwältigend ist des Gewissens Macht!« stand da. »Sie treibt uns dazu, dass wir in eigner Person uns verraten, anklagen und bekämpfen und wenn sie keinen anderen Zeugen findet, ruft sie uns wider uns auf ...« Schön wär’s, dachte Berndorf. Aber Tiefenbachs Mörder saß warm und behaglich in seinem Sessel, oder er brachte seiner Frau einen Sherry.
Wenn nicht sogar die Frau die Mörderin war.
Dann wies er sich zurecht. Was du dir da zusammenspinnst, sind Klischees aus einer Seifenoper. Oder aus dem Vorabendkrimi. In Wahrheit wusste er absolut nichts. Nichts über Tiefenbachs Mörder, und nichts über den entflohenen Strafgefangenen Wolfgang Thalmann, den
Weitere Kostenlose Bücher