Der Schatten erhebt sich
Brüder gewaschen, als sie noch klein waren.« Rhuarc schloß die Tür, und der Rest wurde abgeschnitten. »Ihr behandelt ihn nicht so wie die Tairener«, sagte Perrin ruhig. »Keine Verbeugungen und Kratzfüße. Ich glaube nicht, daß ich bei einem von Euch schon einmal den Ausdruck ›Lord Drache‹ gehört habe.« »Der Wiedergeborene Drache ist eine Prophezeiung der Feuchtländer«, sagte Rhuarc. »In unserer heißt er ›Der Mit Der Morgendämmerung Kommt‹.« »Ich dachte, das sei das gleiche. Warum seid Ihr sonst zum Stein gekommen? Seng mich, Rhuarc, Ihr Aiel seid das Volk des Drachen, so, wie es vorhergesagt wurde. Das habt Ihr doch praktisch schon zugegeben, auch wenn Ihr es nicht offen aussprecht.« Rhuarc überhörte das letztere. »In Euren Prophezeiungen des Drachen wird durch den Fall des Steins und dadurch, daß er Callandor an sich nahm, die Wiedergeburt des Drachen bewiesen. In unserer Weissagung heißt es lediglich, daß der Stein fallen müsse, bevor er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, erscheint und uns wieder zu dem verhilft, was einst unser war. Vielleicht sind beide der gleiche Mann, aber ich bezweifle, daß selbst die Weisen Frauen dies mit Bestimmtheit behaupten können. Falls Rand derjenige ist, muß er noch bestimmte Dinge vollbringen, um es zu beweisen.« »Was denn?« wollte Perrin wissen.
»Falls er derjenige ist, weiß er es und wird sie vollbringen. Wenn nicht, geht unsere Suche weiter.« Ein Unterton in der Stimme des Aielmannes störte Perrin. »Und wenn er nicht derjenige ist, nach dem Ihr sucht? Was dann, Rhuarc?« »Schlaft gut und sicher, Perrin.« Rhuarcs weiche Stiefel verursachten kein Geräusch, als er über den schwarzen Marmorboden davonschritt. Der tairenische Offizier blickte immer noch an den Töchtern des Speers vorbei, roch nach Angst und brachte es nicht fertig, den Zorn und den Haß aus seinem Gesicht zu verbannen. Falls die Aiel zu dem Schluß kamen, daß Rand nicht Der Mit Der Morgendämmerung Kommt war...
Perrin betrachtete das Gesicht des Offiziers und überlegte, was geschähe, wenn die Töchter des Speers nicht da wären, wenn sich keine Aiel im Stein aufhielten. Er schauderte. Er mußte sichergehen, daß Faile abreiste. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Sie mußte sich entschließen, ohne ihn abzureisen.
KAPITEL
4
Marionetten
T hom Merrilin streute Sand über das Geschriebene, um die Tinte zu löschen, und dann schüttete er sorgfältig den Sand wieder zurück in das Gefäß und schloß den Deckel. Er suchte unter den auf dem Tisch gestapelten Papieren herum und wählte schließlich ein leicht zerknülltes Blatt mit einem Tintenfleck aus. Sechs brennende Talgkerzen auf dem Tisch stellten bei soviel Papier eine echte Gefahr dar, doch er benötigte das Licht. Er verglich das herausgesuchte Blatt ganz genau mit dem Geschriebenen, und dann strich er sich zufrieden mit einem Daumen über den langen, weißen Schnurrbart und gestattete sich ein Lächeln auf seinen ledernen Gesichtszügen. Hochlord Carleon selbst würde glauben, es sei seine eigene Handschrift.
Seid vorsichtig. Euer Mann hat Verdacht geschöpft.
Nur diese Worte und keine Unterschrift. Wenn er jetzt dafür sorgte, daß Hochlord Tedosian diese Nachricht dort fand, wo seine Frau, Lady Alteima, sie unvorsichtigerweise zurückgelassen haben könnte...
Es klopfte an die Tür, und er fuhr zusammen. Um diese Zeit in der Nacht kam doch sonst niemand zu Besuch.
»Einen Moment«, rief er und stopfte hastig Stifte und Tintenfaß und die ausgewählten Blätter in den abgenützten Schreibkasten. »Ein Moment. Ich ziehe mir nur schnell ein Hemd über.« Er verschloß die Truhe und schob sie unter den Tisch, wo sie einer flüchtigen Musterung vielleicht entging. Dann überblickte er schnell noch sein kleines, fensterloses Zimmer, um zu sehen, ob noch irgend etwas herumlag, was nicht gesehen werden sollte. Reifen und Bälle zum Jonglieren lagen auf seinem engen, ungemachten Bett herum und sogar zwischen seinem Rasierzeug auf dem einzigen Regalbrett. Dort lagen auch Feuerstäbe und kleinere Gegenstände, die er für Zaubertricks benötigte. Sein Gauklerumhang mit losen, an jeweils nur einer Stelle aufgenähten Flicken in hundert verschiedenen Farben hing zusammen mit seiner übrigen Kleidung und den festen Lederbehältern für Harfe und Flöte an einem Haken. Der durchscheinende rote Seidenschal einer Frau war um den Tragriemen des Harfenbehälters geknüpft.
Er war sich nicht mehr ganz sicher,
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