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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Lockhart. Ich hatte den Nachmittag
anderswo zu tun, aber ich habe Sie erwartet. Sollen wir
hineingehen?« Isabel Meredith wäre fast in Ohnmacht
gefallen. Sally sah sie taumeln und bekam gerade noch
ihren Arm zu fassen. »Oh, Entschuldigung. Aber ich
kann nicht... «
Sally spürte ihre Verzweiflung. Das war nicht der
Augenblick, in einem kalten Büro zu sitzen. Auf der
anderen Straßenseite befand sich ein Droschkenplatz.
Eine Minute später fuhren sie unter Hufgeklapper durch
die belebten Straßen zu Sallys möblierter Wohnung.
Sie saßen in bequemen Sesseln am warmen Kaminfeuer,
der Wasserkessel sang leise, Tee, Gebäck und Butter
standen bereit, und zu ihren Füßen lag ein
kohlrabenschwarzer Hund von der Größe eines Tigers
majestätisch hingestreckt auf einem bunten Läufer. Isabel
hatte den Schleier abgelegt und ihr Gesicht Sally
zugewandt. Sie versuchte erst gar nicht, ihre Tränen zu
verbergen. Dann überkam sie der Hunger und sie aß,
während Sally mehr Scheiben über dem Feuer toastete.
Keiner von beiden sprach. Dann ließ sich Isabel in den
Sessel zurückfallen und schloss die Augen.
»Es tut mir so Leid«, sagte sie schließlich. »Was denn?«
»Ich habe ihn verraten. Dafür schäme ich mich so... »Er
konnte entkommen. Er ist in Sicherheit, weil Sie uns
benachrichtigt haben. Sie meinen doch Mr. Mackinnon?«
»Ja. Ich --- ich kenne Sie gar nicht, Miss Lockhart, aber
ich hatte Vertrauen zu Ihrem Freund Jim: Mr. Taylor. Ich
hatte Sie mir älter vorgestellt. Und dass Sie
Finanzberatungen machen... Aber Ihr Freund sagte mir,
Ihnen liege viel an diesem Fall. Deshalb bin ich zu Ihnen
gekommen. «
Auf Sally machte sie den Eindruck, stolz, schüchtern,
verängstigt, beschämt und zornig zugleich zu sein.
»Das hat nichts zu sagen«, bemerkte Sally. »Gewiss, ich
mache Finanzberatungen, aber das umfasst noch vieles
andere. Vor allem jetzt. Und ich interessiere mich sehr
für Mr. Mackinnons Fall. Erzählen Sie mir einfach alles,
was Sie dazu wissen. «
Isabel nickte, schnauzte sich und setzte sich dann
aufrecht hin, so als ob sie einen Entschluss gefasst hätte.
»Ich habe ihn in Newcastle kennen gelernt«, begann sie.
»Das war vor anderthalb Jahren. Ich arbeitete damals bei
einem Theater-Schneider - eine ganz bescheidene
Anstellung. Ich war die meiste Zeit nicht zu sehen. Ich
war nicht den ganzen Tag lang fremden Blicken
ausgesetzt. Schauspieler sind nicht so grausam wie
gewöhnliche Menschen, sie mögen sich ihren Teil
denken, lassen sich aber nichts anmerken. Im Übrigen
sind sie eitel und oft wie Kinder, wissen Sie, da
bemerken sie oft gar nichts. Ich war dort glücklich. Dann
kam eines Tages er und bestellte bei meinem Chef einen
besonderen Anzug. Anzüge für Zauberkünstler haben
viele Extrataschen, die unter den Rockschößen und an
vielen anderen Stellen versteckt sind. Kaum hatte ich ihn
gesehen, da... Sind Sie schon einmal verliebt gewesen,
Miss Lockhart?« »Ich... Sie haben sich in ihn verliebt?«
»Restlos. Für immer und ewig. Ich versuchte mich
dagegen zu wehren. Was hätte ich erhoffen können?
Aber dann, wissen Sie, er ermutigte mich... Wir sahen
uns mehrmals. Auch damals war er in Gefahr. Er musste
oft seine Adresse wechseln - seine Feinde ließen ihm
keine Ruhe. Er konnte nie länger an einem Platz
bleiben... « »Wer waren denn seine Feinde?«
»Er hat es mir nie gesagt. Er wollte mich nicht in Gefahr
bringen. Ich glaube, er fühlte etwas für mich, vielleicht
nur ein bisschen. Er schrieb mir jede Woche --- ich habe
alle seine Briefe aufbewahrt. Ich habe sie jetzt bei mir... «
Sie zeigte auf das Blechkästchen neben sich auf dem
Fußboden. Hat er irgendwann einmal einen gewissen
Bellmann erwähnt? Oder Lord Wytham?« »Nein, ich
glaube nicht. «
»Was glauben Sie, was machte ihm zu schaffen?« »Er
deutete manchmal an, dass es mit einer Erbschaft zu tun
habe. Ich dachte, er sei vielleicht der Erbe eines großen
Vermögens, den man um sein angestammtes Recht
gebracht hatte. Aber ihn interessiert nur seine Kunst. Er
ist durch und durch Künstler. Und was für ein Künstler...
Haben Sie ihn schon einmal auf der Bühne gesehen?
Finden Sie nicht auch, dass er ein großer Künstler ist?«
Sally nickte. »Ja, das finde ich auch. Hat er zu Ihnen über
seine Eltern und seine Kindheit gesprochen?« »Nein,
kein einziges Mal. Es schien so, als habe er diesen
Abschnitt seines Lebens begraben. Die Kunst war sein
ganzes Leben, jeder Augenblick, jeder Gedanke. Ich
wusste --- mir war klar, ich würde

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