Der Schatten im Norden
aus dem Gleis
geworfen worden. Er ist seitdem arbeitslos... Schauen
Sie, Miss Lockhart, das ist eine vertrackte Geschichte,
und ich weiß nicht, ob ich alles in der richtigen
Reihenfolge erzählen kann. Unterbrechen Sie mich bitte,
wenn ich den Faden verliere. «
»Reden Sie einfach frei von der Leber weg. Kümmern
Sie sich nicht um die Reihenfolge. «
»Also gut. Mein Bruder --- ich halte das für wichtig ---
ist Gewerkschafter und Sozialist. Ein fähiger, guter
Mann, was auch mein Mann Mr. Seddon bestätigt,
obgleich er immer die Konservativen wählt. Aber Sidney
hatte immer seinen eigenen Standpunkt, vielleicht hat ihn
das beeindruckt, ich weiß es nicht.
Mein Bruder ist Handwerker --- Kesselschmied. Das
heißt, er war es, in der Lokomotivfabrik Walker und
Söhne. Aber die Geschäfte der Firma gingen nicht gut ---
fehlende Aufträge --- keine neuen Investitionen - wie es
eben in solchen Fällen geht. Das ist jetzt zwei, drei Jahre
her. Jedenfalls verkauften die Besitzer den Betrieb an
eine andere Firma. Und dann kam ein neuer
Geschäftsführer, ein Schwede oder Holländer, und der
entließ die Arbeiter massenweise. Das war schon
merkwürdig, die neue Geschäftsleitung schien kein
Interesse an neuen Aufträgen zu haben, sondern nur die
bestehenden Aufträge abwickeln und dann die Männer
entlassen zu wollen. « »Hat Ihr Bruder seine Stelle
verloren?«
»Nicht sofort. Er verstand sein Handwerk ausgezeichnet
--- er war einer der besten Männer in der Firma. Er
gehörte zu denen, die bis zuletzt ihre Stelle behielten.
Aber er mochte die neuen Methoden nicht. Der junge
Geschäftsführer hatte seinen eigenen Stab mitgebracht,
Leute aus London und aus dem Ausland. Sie gingen
durch den Betrieb und machten sich Notizen - Notizen
über alles. Wer machte dies, warum machte er das, was
tat er als Nächstes, wie lange brauchte er dazu. Aber
damit nicht genug. Sie wollten über private Dinge
Bescheid wissen --- zum Beispiel wo man wohnte,
welche Kirche man besuchte, in welchem Verein oder
Klub man Mitglied war, Familienverhältnisse --- einfach
alles.
Die Gewerkschaften sahen das selbstverständlich nicht
gern. Aber was hätten sie tun können, wenn die Aufträge
fehlten. Doch etwas Merkwürdiges ging da vor, während
der Geschäftsführer und seine ausländischen Freude
täglich ein und aus gingen, Notizen machten,
Besprechungen führten, Berechnungen und Zeichnungen
anstellten... Hinter allem ging es um viel Geld, so viel
konnten sie sagen. Aber davon sahen die Arbeiter nichts.
Dann, an einem Tag im Mai vorigen Jahres, wurde eine
Versammlung einberufen. Alle verbliebenen Arbeiter
waren eingeladen, daran teilzunehmen --- wohlgemerkt
eingeladen, nicht aufgefordert. Allerdings waren es auch
diejenigen, die man am genauesten ausgeforscht hatte.
Alle Einzelheiten ihres Lebens --- wie viel Miete sie
monatlich zahlten oder wie viele Kinder sie hatten ---
waren in den Notizbüchern festgehalten worden.
Alle Männer, die letzten handverlesenen hundert, kamen
in den Saal, der von der Geschäftsleitung gemietet
worden war. Keine Arbeiterversammlung, bei der alles
im Stehen verhandelt wurde, sondern ein Konvent, bei
dem die Beteiligten an Tischen saßen und bei dem
Erfrischungen gereicht wurden. So etwas hatten die
Arbeiter noch nicht erlebt. Mein Bruder kam aus dem
Staunen nicht heraus, es war unglaublich.
Nachdem alle versammelt waren, kamen der
Geschäftsführer und sein Stab und begannen mit ihren
Darlegungen, Ich erinnere mich noch, wie Sidney später
davon berichtete und welchen Eindruck es auf ihn
machte... Es hieß, die Firma stehe vor der aufregendsten
Entwicklung ihrer Geschichte. An Einzelheiten kann ich
mich nicht mehr erinnern, nur dass Sidney sagte, die
Reden hätten ihn in Hochspannung versetzt und allen
anderen Arbeitern sei es genauso ergangen. Das Ganze
habe fast schon religiöse Hoffnungen geweckt, was aus
seinem Mund seltsam klang, wie ich Ihnen gleich
erklären werde. Es sei wie bei einem religiösen
Erweckungsfeldzug gewesen, sagte er. Am Ende gab es
keinen, der nicht sein Leben weggegeben hätte für die
Chance, in der Firma zu arbeiten. « Mrs. Seddon legte
eine Pause ein und schaute nachdenklich ins Kaminfeuer.
»Aber was hatten sie eigentlich vor?«, fragte Sally. »Sie
wollten doch nach solch einer Rede nicht einfach mit
dem Lokomotivbau weitermachen? Haben sie nicht ihre
Pläne offen gelegt?«
»Nein, zu dem Zeitpunkt noch nicht. Damals wurden
nur viele Worte gemacht über eine goldene
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