Der Schatten im Norden
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»Du redest nicht von mir. Du redest von irgendeinem
lächerlichen Wunschtraum, den du dir zusammen
fantasiert hast. Werde erst mal erwachsen, Frederick. «
Sein Gesicht änderte sich schlagartig. Ein Ausdruck,
den sie nicht in Worte fassen konnte, flammte in seinen
Augen auf und erlosch gleich wieder, so dass sie meinte,
etwas in ihm sei gestorben. Sie streckte eine Hand nach
ihm aus, aber es war schon zu spät. »Wir bringen diesen
Fall noch zu Ende«, sagte er kalt, stand auf und nahm
seinen Spazierstock. »Und dann machen wir reinen
Tisch. « Sie stand ebenfalls auf und ging einen Schritt auf
ihn zu, aber er hatte sich schon abgewandt und ging ohne
ein weiteres Wort.
Diese Nacht war voller Geschäftigkeit. Während Sally
vor der Asche des niedergebrannten Kaminfeuers saß und
immer aufs Neue zu einem Brief an Frederick ansetzte,
aber erkennen musste, dass es genauso schwierig ist, die
richtigen Worte zu schreiben wie sie auszusprechen, bis
sie es schließlich aufgab, den Kopf auf die Knie legte und
weinte; während Frederick Seite auf Seite mit
Spekulationen vollkritzelte, alles wieder zerriss, dann an
seiner neuen amerikanischen Kamera herumbastelte,
dabei die Geduld verlor und sie in die Ecke warf;
während Webster Garland und Charles Bertram bei
Zigarren und Whisky zusammensaßen und über Licht
und Schatten, Gelatine, Kollodium, Kalotypien,
Verschlussmechanismen und Papiernegative
fachsimpelten; während Jim, der abwechselnd finster vor
Schmerz und hilflos vor Liebe dreinschaute, seine
Stichwörter verpasste, an falschen Stricken zog, Leitern
fallen ließ und sich brav und verlorenen Blickes vom
Inspizienten abkanzeln ließ; während Nellie Budd
bewusstlos in einem unbequemen Krankenhausbett lag,
neben dem auf einem Stuhl Fredericks Blumenstrauß in
einer Vase stand; während Lady Mary in perfekter
Haltung, schweigend und in ihrem Innersten tiefelend ein
Diner mit nicht enden wollender Speisefolge durchstand;
während Chaka von Sally und Jagden und Kaninchen
träumte --- klopfte ein Mann an eine Tür in Soho und
wartete darauf, eingelassen zu werden.
Der Mann war jung, alert und geschmeidig in seinen
Bewegungen. Er trug dezente Abendkleidung, so als ob
er gerade von einem Diner oder aus der Oper käme, und
hielt einen Spazierstock mit Silberknauf in der Hand, mit
dem er den Takt eines bekannten Schlagers auf die
Treppenstufe hämmerte. Gleich darauf öffnete sich die
Tür.
»Ah«, sagte Mr. Windlesham, »kommen Sie doch
herein. « Er trat beiseite und ließ den Gast herein.
Dieses Büro benutzte Mr. Windlesham für geschäftliche
Angelegenheiten, von denen er nicht wünschte, dass sie
mit Baltic House in Verbindung gebracht würden. Er
schloss die Tür sorgfältig und folgte dem jungen Mann in
ein warmes, hell erleuchtetes Zimmer, wo er sich das
Warten mit der Lektüre eines Romans verkürzt hatte.
»Darf ich Ihnen Hut und Mantel abnehmen, Mr.
Brown?« Mr. Brown legte ab und nahm Platz. Er warf
einen flüchtigen Blick auf das offene Buch auf dem
Tisch. Mr. Windlesham bemerkte, wohin der Blick des
Gastes ging.
»Ich lese gerade Wie wir jetzt leben«, sagte er. »von
Anthony Trollope. Ein unterhaltsamer Roman über einen
Spekulanten. Lesen Sie gern Romane, Mr. Brown?«
»Nein, Romane sind nicht mein Fall«, antwortete Mr.
Brown knapp. Er hatte eine merkwürdige Stimme mit
einem Akzent, mit dem Mr. Windlesham nichts
anzufangen wusste, denn er gehörte zu keiner
Gesellschaftsklasse und zu keiner Region, die ihm
bekannt gewesen wäre.
»Zum Lesen fehlt mir die Zeit«, fuhr er fort. »Aber ins
Varietee könnte ich jeden Tag gehen. «
»Ah ja, das Varietee. Aber nun zum Geschäftlichen: Sie
sind mir sehr empfohlen worden, nicht zuletzt wegen
Ihrer Diskretion. Aber wir können ganz offen
miteinander reden. Ich gehe davon aus, dass Sie für Ihre
Auftraggeber Personen vom Leben zum Tod befördern. «
»So ist es, Mr. Windlesham. «
»Sagen Sie mir doch bitte, ist diese Aufgabe bei Frauen
schwieriger zu lösen als bei Männern?«
»Nein. Eine Frau ist naturgemäß in ihren Reaktionen
nicht so rasch und stark wie ein Mann. «
»Ich meinte eigentlich etwas anderes... Aber das tut jetzt
nichts zur Sache. Wie viele Personen haben Sie schon
beseitigt, Mr. Brown?« »Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich bin dabei, mir ein Bild über Ihre Referenzen zu
machen. « Mr. Brown zuckte die Schultern.
»Einundzwanzig«, sagte er. »Also ein Experte. Und
welche Methode verwenden Sie dabei üblicherweise?«
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