Der Schatten von Thot
Entfernung ist, die wir zurückgelegt haben, vermag ich nicht zu beurteilen, und es entzieht sich auch meiner Kenntnis, was aus unseren Gefährten geworden ist, denen freies Geleit zugesichert wurde. Was Sir Jeffrey, Kamal und mich erwartet, darüber kann ich nur rätseln. So dankbar ich den beiden für den Beistand bin, den sie mir erweisen, so töricht war ihre Entscheidung. Denn es scheint mir offensichtlich, dass keiner von uns das Lager der Verschwörer lebend verlassen wird…
Der Moment, in dem Sarah Kincaid die Augenbinde abgenommen wurde, war gleichzeitig erfüllt von Sorge und Freude. Sorge empfand sie über ihre Lage und die ihrer Gefährten; aber diese Sorge verblasste, als Sarah sah, in wessen Gesellschaft sie sich befand.
Ihre Häscher hatten Sir Jeffrey, Kamal und sie in eine Hütte gesperrt, die aus Natursteinen errichtet worden war. Durch die Ritzen zwischen den Steinen fiel grelles Sonnenlicht, das sich in Form leuchtender Schäfte durch die staubige Luft zu bohren schien. Und jenseits dieser Gitterstäbe aus Licht, im hintersten Winkel der primitiven Behausung, kauerte ein Mann, den Sarah nur zu gut kannte.
Seine Haut war von der Sonne verbrannt, sein Haar und sein Bart verwahrlost und seine Kleidung zerschlissen. Aber der Mann, der dort an die Wand gelehnt saß und zu schlafen schien, war ohne Zweifel Mortimer Laydon. Trotz der dramatischen Bedingungen ihres Wiedersehens konnte Sarah ihr Glück kaum fassen.
»Onkel Mortimer?«, fragte sie sanft.
Laydon reagierte nicht. Der königliche Leibarzt hatte Gewicht verloren. Seine Wangen wirkten ausgemergelt und hohl. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter pfeifenden Atemzügen.
»Onkel«, sprach Sarah ihn noch einmal an, lauter diesmal – und in Mortimer Laydon kam Leben. Er blinzelte und schlug die Augen auf, blickte sich verwirrt um, als hätte er vergessen, an welch tristem Ort er sich befand. Die Ketten, mit denen seine Handgelenke gefesselt waren, klirrten leise, als er sich aufrichtete. Im nächsten Moment erkannte er Sarah.
»Guten Tag, Onkel Mortimer«, flüsterte sie.
»Sarah?« Er starrte sie ungläubig an. »Das ist nicht möglich! Das kann nur ein Traum sein, den meine gepeinigten Sinne mir vorspielen – oder…?«
»Es ist kein Traum, alter Freund, das kann ich Ihnen versichern«, gab Sir Jeffrey zur Antwort. »Ihre Nichtelist so real, wie ich es bin – und leider auch diese Wände, die uns gefangen halten.«
»Jeffrey, mein alter Freund… Sarah…« Tränen der Dankbarkeit traten in Laydons Augen. »Wie ist das möglich? Bin ich schon gestorben, und dies ist der Himmel?«
»Nein, Onkel.« Sarah musste lächeln. »Du bist noch höchst lebendig, und wie Sir Jeffrey schon sagte, ist dies keineswegs ein Traum, sondern die Wirklichkeit. Wir sind gekommen, um nach dir zu suchen und dich zu befreien…«
»Der Herr vergelte es euch tausendfach.« Laydon streifte Kamal, der neben Sarah und Hull am Boden kauerte und wie sie gefesselt war, mit einem kurzen Blick. »Und was ist mit ihm?«
»Dies ist Kamal, Onkel Mortimer«, erklärte Sarah, »ein guter Freund, der uns sehr geholfen hat.«
»Ich verstehe… Aber wie habt ihr mich gefunden? Und wie seid ihr hierher gekommen? Ihr seid Gefangene wie ich…«
»Eine lange Geschichte, Onkel Mortimer«, sagte Sarah und bemühte sich, in aller Kürze zu berichten, was sich seit Laydons Entführung zugetragen hatte. Manches ließ sie dabei aus, anderes raffte sie, um einen möglichst knappen Abriss der Ereignisse zu geben.
»Bei allem, was mir heilig ist«, flüsterte Laydon, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte, »ihr hättet nicht kommen sollen. Ihr hättet diese unselige Suche nach mir niemals beginnen dürfen. Der Feind, mit dem wir es hier zu tun haben, ist gefährlich. Es sind Fanatiker, wahre Teufel in Menschengestalt…«
»Wer sind sie?«, erkundigte sich Sir Jeffrey. »Haben Sie etwas über diese Leute herausfinden können?«
»Nicht viel.« Laydon schüttelte den Kopf. »Nur dass sie sich die Erben Meherets nennen – was immer das bedeuten mag – und dass sie hinter etwas her sind, das sie als den ›Schatten‹ bezeichnen. Sie kleiden sich in schwarze Gewänder und verhüllen ihre Gesichter, und die meisten von ihnen sind Araber.«
»Die meisten?«, hakte Sarah nach. »Demnach nicht alle?«
»Nein, es befindet sich ein Weißer unter ihnen – und ich fürchte, es ist ein Landsmann von uns.«
»Ein Engländer soll unter diesen Barbaren sein?« Jeffrey Hull
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