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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wollte sie der Wahrheit endlich auf den Grund gehen, und selbst Kamal schien nach all den Fährnissen nun Gewissheit haben zu wollen.
    Über die letzten Pfeiler erreichten sie den Ausgang der Fledermaushöhle und gelangten in einen nach allen Richtungen etwa zehn Yards messenden Raum, dessen Wände mit Darstellungen der ägyptischen Götterwelt versehen waren. Die Stirnseite der Kammer nahm eine Pforte ein, die von einem massiven Tor aus Sandstein verschlossen wurde. Darin eingearbeitet waren vier Nischen, jede davon rund einen Fuß hoch und ebenso tief. Oberhalb davon prangte das Ibis-Zeichen, das Sarah in letzter Zeit so häufig gesehen hatte und das so schändlich missbraucht worden war: das Symbol des Gottes Thot.
    Die Lichtquelle, die die Kammer mit fahlem Schein erfüllte und Sarah und Kamal den Weg gewiesen hatte, befand sich unmittelbar über der Pforte. Es war eine schmale Öffnung in Form eines Auges, durch die ein mattweißer Lichtschaft fiel. Staub, den Sarah und Kamal mit ihren Schritten aufgewirbelt hatten, flirrte darin.
    »Unglaublich«, meinte Kamal und ließ seine Hand durch den Lichtstrahl gleiten. »Das ist Sonnenlicht, und das so tief unter der Erde! Die reinste Zauberei…«
    »Kaum.« Sarah schüttelte den Kopf. »Schon eher die Wirkung eines Umlenkspiegels, der das Sonnenlicht an der Oberfläche einfängt und bis hierher reflektiert. Die Erbauer der Pyramiden pflegten auf diese Weise die tief gelegenen Grabkammern zu beleuchten.«
    In der spärlichen Beleuchtung betrachtete sie die Wandbilder. Als Spezialistin für alte Geschichte erkannte Sarah auf einen Blick, dass Szenen aus dem Zyklus des Thot dargestellt waren, die den Herrn des Mondauges bei Weltschöpfung und Weltengericht zeigten. Und noch eine Darstellung war auf dem Fries zu sehen, eine Darstellung, in der der ibisköpfige Thot einem Mann – wohl einem Untergebenen, da er kleiner und nach unten versetzt dargestellt war – etwas in den offenen Mund zu legen schien.
    »Eine Mundöffnung«, stellte Sarah fest.
    »Was bedeutet das?«, fragte Kamal.
    »Im Ritual der Mundöffnung wurde einem Verstorbenen über den Tod hinaus ewiges Leben verliehen«, erklärte Sarah. »Der Kleidung nach zu urteilen, handelt es sich bei dem Mann, dem die Unsterblichkeit zuteil wird, um einen Priester. Vielleicht sogar um Tezud selbst.«
    »Tatsächlich?« Kamal nahm die geheimen Zeichen in Augenschein, mit denen die Darstellung untertitelt war.
    »Kannst du es übersetzen?«, erkundigte sich Sarah.
    »Ich denke ja… Hier steht:
     
    Ich öffne deinen Mund, damit du sprichst.
    Ich öffne deine Augen, damit du den Mond erblickst.
    Ich öffne deine Ohren, damit du meine Lobreden hörst.
    Auf dass du Beine hast, um dem Feind entgegenzutreten,
    und starke Arme, um ihn abzuwehren auf ewig.«
     
    »Ein Mundöffnungszauber.« Sarah schürzte die Lippen. »Man wollte wohl, dass Tezud über seinen Tod hinaus das Geheimnis dieses Ortes beschützt.«
    »Was er in gewisser Hinsicht ja auch getan hat«, brachte Kamal in Erinnerung und verwies damit auf die Tatsache, dass seine Familie ihre Herkunft auf den Hohepriester des Tempels zurückführte.
    »Ich frage mich, wozu die Nischen dienen mögen.« Sarah wandte ihre Aufmerksamkeit der steinernen Pforte zu. »Entweder haben sich einst kleine Statuen darin befunden, die irgendwann von Grab räubern geraubt wurden, oder…«
    »Oder?«, hakte Kamal nach.
    »Oder es sind Platzhalter, die für etwas Bestimmtes vorgesehen sind – beispielsweise für einen Schlüssel, der die Pforte öffnen soll. Fragt sich nur, woraus dieser Schlüssel bestand.«
    »In der Tat«, drang plötzlich eine Stimme vom Eingang her. »Vielleicht können wir es ja gemeinsam herausfinden.«
    Alarmiert fuhr Sarah herum.
    Vor ihr stand, zu ihrer maßlosen Verblüffung, Mortimer Laydon.
    Ihr Patenonkel, den sie zuletzt in der schäbigen Hütte in Ketten gesehen hatte, war plötzlich auf freiem Fuß; seine zerschlissenen Kleider hatte er gegen einen makellosen Tropenanzug und den dazugehörigen Helm getauscht, sein Haar war geschnitten und sein Bart frisch rasiert. Noch immer wirkten seine Gesichtszüge eingefallen, aber sie besaßen nicht mehr jenen Ausdruck stiller Verzweiflung, den Sarah zuvor darin gesehen hatte.
    »Onkel Mortimer!«, entfuhr es ihr voller Freude, und ungeachtet aller offenen Fragen, wie Laydon hierher gelangt war und sie gefunden hatte, stürzte sie auf ihn zu und wollte ihn umarmen.
    Als sie jedoch merkte, dass Laydon weder ihr

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