Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
nahm sie sich zusammen und ermahnte sich, nicht dumm zu sein. Felyss war ein vernünftiges Mädchen. Mit der Hilfe ihrer Familie würde sie die Sache überstehen.
Agella lief auf ihre Schwester zu und nahm sie in die Arme. Viora brach in Tränen aus. »Unser Zuhause«, schluchzte sie, »weg. Alles ist weg. Die Soldaten …« Sie sah ängstlich zu den Wachposten hinüber und sagte nichts weiter. »Viora! Meine Liebe, komm mit mir. Warte, erzähl mir noch nichts. Wir wollen euch zuerst unterbringen, dann kannst du mir alles erzählen, was passiert ist.«
Als sie die Flüchtlinge am Tor vorbeiführen wollte, wurden sie von den Wachen angehalten. »Aber ich bitte dich, Meisterin Agella! Du weißt genau, dass wir Unbefugte nicht hineinlassen dürfen. Außer zum Gottesdienst im Tempel dürfen nur Leute herein, die hier wohnen, ihre Lebensgefährten und engsten Familienmitglieder und Leute mit triftigen Angelegenheiten.«
Viora wimmerte, und Agella holte tief Luft. Es gab keinen Grund, bei dem Soldaten die Geduld zu verlieren. Indem er sie zurückwies, tat er seine Pflicht. Aber sie bemerkte, dass es den beiden Wachen durchaus unangenehm war. Myrial sei Dank, dass sie alle glauben, ich brächte ihnen Unglück, dachte sie und bedachte die beiden mit einem Lächeln. Sie erschienen ihr allzu jung für diesen verantwortungsvollen Posten. »Ihr habt natürlich Recht«, erwiderte sie darauf, »ich kenne die Gesetze und befolge sie selbstverständlich. Aber denkt einen Augenblick darüber nach: Ich habe keinen Lebensgefährten und keine Kinder. Diese notleidenden Menschen hier sind meine einzige Familie, meine nächststehenden Verwandten. Und sie würden nicht mehr Raum brauchen als ein Mann und Kinder. Soll ich denn dazu verurteilt sein, immer allein zu leben? Es scheint mir geradezu, als ob ich bestraft werden soll, weil ich mich an keinen Mann binden will. Außerdem seht ihr doch, in welchem Zustand sie sich befinden. Was würdet ihr tun, wenn eure Mutter weinend am Tor stünde und all ihre Habe in einem zerlumpten Bündel bei sich trüge? Was würdet ihr tun, wenn dieses arme Mädchen hier eure Liebste wäre?«
Ein gewinnendes Lächeln gehörte nicht zu Agellas Stärken, doch sie tat ihr Bestes. »Ich bitte euch, Männer. Es soll nicht für lang sein, das verspreche ich. Nur für ein oder zwei Tage, bis ich eine andere Möglichkeit gefunden habe. Und ihr werdet mich nicht undankbar finden.« Sie legte den Kopf schräg und zwinkerte. »Wie würde es euch gefallen, ein besseres Schwert als Hauptmann Blank zu besitzen? Ich setze euch ganz oben auf meine Liste und werde euch eine so gute Arbeit liefern, wie ihr sie noch nicht gesehen habt. Was sagt ihr dazu?«
Die beiden Wachen sahen einander für einen langen Augenblick an, dann verzogen sie den Mund zu einem Grinsen. »Also, ich hab niemanden gesehen. Hast du einen gesehen, Armod?« Armod schüttelte den Kopf und sah zunehmend zufriedener aus. »Nur Leute mit triftigen Angelegenheiten, Brennek.« Sie hefteten den Blick auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne und winkten Agella mit ihrer Familie durch.
»Danke, Männer«, sagte Agella. »Ich stehe in eurer Schuld. Und ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich sie begleiche. Ihr werdet eure Schwerter bekommen, sobald es geht.«
Die Häuschen der Handwerker standen in Dreiergruppen einander gegenüber, sodass jedes über zwei Dreiecke des gemeinschaftlichen Gartens verfügte, nämlich vor und hinter dem Haus. Zwischen den Häusern führten gepflasterte Wege hindurch und bildeten ein Netz, das komplizierter zu durchschauen war als die Straßen der Unterstadt. Man brauchte viel Übung, um ein Haus wiederzufinden und es auf dem kürzesten Weg zu erreichen.
Agella spürte die wachsende Verwirrung ihrer Schwester und ihres Schwagers, während sie sie zwischen den Häusern hindurchführte. Felyss dagegen tappte benommen vor sich hin. Sie wirkte ganz in sich zurückgezogen, und Agella war davon überzeugt, dass sie ihre Umgebung nicht wahrnahm. Dass sie sich gegen jedermann verschloss, war wohl verständlich, war ein entsetztes Abwehren der Außenwelt, in der sie so gräuliche Taten hatte über sich ergehen lassen müssen. Wenn das arme Ding nur nicht allzu lange in diesem Zustand verbleibt, dachte Agella, sonst könnte es ihr womöglich gefährlich werden.
Felyss, obgleich am Ende ihrer Kraft, zog eine schwere Segeltuchtasche hinter sich her. Agella hörte darin die Werkzeuge klirren, doch sobald sie versuchte, dem Mädchen
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