Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
des Weges. Bislang hatte sie ihm wenig Aufmerksamkeit geschenkt, denn wer sollte schon in dieser Nacht hier unterwegs sein.
Die Menschen waren eine seltsame und wenig vernunftbegabte Art, aber … Aber anscheinend waren sie noch unvernünftiger als gedacht, denn dort bewegte sich etwas – kämpfte sich mit tödlicher Langsamkeit gegen den Sturm bergan.
Thirishris Hoffnung, die restliche Nacht ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu verbringen, war damit verpufft. *Was nun?*, fragte sie sich. Eigentlich hatte sie zurück zur Hütte gewollt, um die gute Nachricht zu verkünden … Sie flog ein wenig tiefer, um den oder die Wanderer näher in Augenschein nehmen zu können. *Beim großen Äolus! Die sehen ja aus wie Tormons Pferde!* Sie kamen ihr entschieden vertraut vor. Während der Händler seine Geschichte erzählt hatte, war sein Kummer so heftig gewesen, dass sie immer wieder die Vorstellungen seiner Fantasie empfangen hatte, Bilder von ungewöhnlicher Klarheit, obgleich er bestimmt kein Telepath war. Sie war sicher, die schwarzen Riesen richtig erkannt zu haben, doch es war der Esel, der alle Zweifel ausräumte. Gescheckte Esel waren schon ungewöhnlich genug, und wie viele gescheckte kleine Esel durfte man in dieser Gegend und in solcher Gesellschaft wohl erwarten? Gut, dachte sie, das ist ja mal eine schöne Überraschung! Aber wie kommen sie hierher?
Einen freudigen Augenblick lang hoffte sie, sich in der Zitadelle geirrt zu haben – festzustellen, dass man die vermisste Gefährtin mitnichten ermordet hatte; glaubte, dass Kanella durch ein Wunder entkommen sein könnte und nun auf der Suche nach ihrem Mann war. Thirishri stand schon im Begriff, Elion einen Ruf zu senden, doch die Vorsicht veranlasste sie, noch einmal näher hinzusehen. An der schlaksigen Gestalt, die sich neben dem Esel voranmühte, war etwas Seltsames; der Anblick wollte nicht recht zu dem Bild der Frau passen, die sie aus Tormons Gedanken kannte. Thirishri wollte sich daher lieber Gewissheit verschaffen, um in Tormon keinesfalls falsche Hoffnungen zu wecken. Außerdem – Kanella hätte doch sicher nicht ihr Kind zurückgelassen?
Beim Näherkommen sah Thirishri sofort, dass sie sich geirrt hatte. Sie dankte der Vorsehung, dass sie ihren ersten Eindruck nicht gleich hinausposaunt hatte. Der arme Tormon würde niedergeschmettert sein, weil die Tiere ohne seine Familie zu ihm zurückkämen. Doch abgesehen von der Enttäuschung, blieb noch ein Rätsel übrig: Wer war dieser Junge? Tormon hatte niemals einen Jungen erwähnt, und ganz gewiss hatte sie auch kein Bild von ihm empfangen. Thirishri kannte sich mit Menschen aus, und dieser hier war, soweit sie es beurteilen konnte, kaum fähig, mit so mächtigen Tieren umzugehen. Warum also war ausgerechnet er mit ihnen in dieser schlimmen Nacht unterwegs? Er geht zur Sägemühle, stellte sie fest. Ob das nun seine ursprüngliche Absicht gewesen war oder nicht, jedenfalls wäre die Mühle seine einzige Hoffnung auf Überleben. Die Sägemühle aber war in der Hand der Schergen des Hierarchen. Gehörte dieser Knabe zu ihnen? Und wenn nicht, was tat er hier in Äolus’ Namen mit eines anderen Menschen Vieh? Eines war auf jeden Fall sicher: Er musste von seinem angestrebten Ziel abgebracht werden …
*Nun denn, junger Mann*, flüsterte sie. *Du weißt es vielleicht noch nicht, aber du wirst dich einem geänderten Plan unterziehen.*
Sie sandte eine schnelle Nachricht an ihren Weggefährten. *Elion? Bereite dich auf einen Neuankömmling vor. Du kannst schon mal anfangen, die Hütte zu vergrößern …*
Nachdem sie ihren Partner gehörig in Erstaunen versetzt hatte und mit dem Problem zurückließ, wie er es dem Händler beibringen sollte, zumal er ihm kaum Thirishris Existenz erklären konnte, erwog sie ihre Möglichkeiten. Der Junge hatte die Mühle fast erreicht und würde gleich die erleuchteten Fenster sehen. Eine rasche Ablenkung war vonnöten. Mit dem Jungen konnte sie kaum etwas anstellen, doch ihr fiel der Trick ein, den sie bei Elions Fuchsstute angewandt hatte. Sie beschwor das lebendige Bild von Tormons Frau herauf und drang damit in den Geist der drei Tiere ein.
Die Sefrianer stellten plötzlich die Ohren auf, und der müde kleine Esel, der eben noch den Kopf hatte hängen lassen, wurde munter. Sie hörten die vertrauten Pfiffe und Rufe ihrer Herrin, die ein Stück weiter oben auf dem Weg stand. Die Tiere schienen im Nu ihre Erschöpfung abzuschütteln. Sie galoppierten los, rissen den
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