Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
bemerkt, dass der Junge, seit Tormon am Morgen den Soldaten getötet hatte, ihm nicht mehr von der Seite wich und auf jedes seiner Worte achtete. Derselbe Mann, der anderntags noch die Wahrheit aus ihm hatte herausprügeln wollen, war plötzlich sein Held geworden. Wer will diese Menschen begreifen?, dachte Elion.
»Ein Stück vom Wasserfall entfernt gibt es eine Bergfalte«, erzählte Scall, »und dort führt eine kurvige Straße hinab. Manchmal verläuft sie am Abhang entlang und manchmal durch den Felsen hindurch.«
»Es stimmt, was der Junge sagt«, sagte Tormon. »Das ist eine mörderische Strecke, viel anstrengender als der Umweg über den Schlangenpass. Man braucht gehörige Fähigkeiten, um dort einen Wagen zu lenken, ganz gleich, in welcher Richtung, und verdammt starke Zugtiere. Darum können Händler, die bis nach Tiarond kommen, so hohe Preise verlangen.«
Elion schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, das ist ein lächerlicher Platz für eine Hauptstadt.«
»Darüber brauchst du mit mir nicht zu streiten«, antwortete Tormon. »Andererseits«, fügte er dann hinzu, »macht diese Lage Tiarond natürlich uneinnehmbar – es sei denn, dein Heer kann fliegen.« Und er gluckste belustigt über diesen Einfall.
Elion traten sofort die Ak’Zahar vor Augen, und ihm wurde kalt.
Das neue Kleid war ein Wunder der Schneiderkunst. Es war vor ein paar Tagen fertig geworden, und Seriema betrachtete sich im Spiegel. Sie bewunderte den feinen Schnitt, die Stickerei und den prächtigen Stoff. So etwas, da war sie sicher, hatte man in Tiarond noch nicht gesehen.
Das alles ist an mir verschwendet.
Und der Anblick des Kleides verschwamm, weil sich ihre Augen mit Tränen füllten. Das ist nicht gerecht! Ihre heimliche innere Stimme, das unbeholfene linkische Mädchen, das sie einst gewesen war, erhob sich aus den Tiefen ihrer Seele, wo sie sie für gewöhnlich eingeschlossen hielt. Das ist nicht gerecht!, heulte sie wieder. Es war das verzweifelte Weinen eines Mädchens ohne Anmut oder Schönheit, das verständig genug war, um zu wissen, dass die jungen Burschen Hölzer zogen und Münzen warfen, um den auszulosen, der mit ihr tanzen muss. Ebenso hatte sie immer begriffen, dass die plumpen Annäherungen der pickeligen Kaufmannssöhne von den gierigen Eltern angestiftet waren, die es nur zum Vermögen ihres Vaters drängte. Das ist ungerecht! Warum bin ich nicht hübsch geworden?
Wie bitte?, ließ sich die spöttische Stimme der erwachsenen Seriema verlauten. Seriema, die unbeugsame, hartherzige Handelsfrau, Kopf des Bergbaukonsortiums, die alle Fäden in der Hand hält. Wie? Du willst auch noch hübsch sein? Es genügt dir nicht, die reichste Frau zu sein, die es in Callisiora je gegeben hat, der niemand in Tiarond zu widersprechen wagt und die jedem Mann in der Stadt Angst einjagt?
Allen außer einem. Allen, nur ihm nicht.
Sei nicht kindisch, Seriema, sagte sie zu sich selbst. Der Hauptmann der Schwerter Gottes ist nicht anders als die anderen. Er ist nur ein Mann – sie sind alle gleich. Wenn du das noch nicht begriffen hast, bist du ein hoffnungsloser Fall. Er macht dir nur den Hof, weil er eine Absicht verfolgt – und nicht wegen deiner unwiderstehlichen Weiblichkeit, glaub mir. Wahrscheinlich will er deine Unterstützung gegen den Hierarchen bei irgendeiner hinterhältigen Intrige …
Das Spiegelbild wurde starr. Das ist nicht wahr. Das kann nicht sein!
Seriema schenkte der jammernden Stimme keine Beachtung mehr. Die Ereignisse der vergangenen Monate waren plötzlich von dem Wirrwarr ängstlicher, zaghafter Gefühle befreit, die sie fortwährend begleitet hatten, und ordneten sich zu einem schlichten Muster. Sie erkannte mit grausamer Klarheit, wie Blank sie gelenkt und überredet, wie er sie umschmeichelt und verzaubert hatte, damit sie für ihn die schmutzige Arbeit tat: die Anstiftung des Großen Opfers.
Und ich bin geradewegs darauf hereingefallen.
Seriema ballte die Fäuste. Wären ihre Fingernägel nicht so hässlich abgekaut gewesen, sie hätten ihr in die Handfläche geschnitten. Ein allumfassender, bitterer Zorn stieg in ihr auf, doch noch war er gegen sie selbst gerichtet, gegen ihr törichtes, leichtgläubiges Herz und nicht gegen das rechtmäßige Ziel. Auch jetzt, da sie sich als erbärmliche liebeskranke Närrin erkannt hatte, war es ihr nicht möglich, ihn zu hassen.
Seriema betrachtete noch einmal das neue Kleid, das kunstvoll gearbeitete Mieder, den gebauschten, steifen Rock. Der
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