Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
kostbare Goldbrokat besaß ein Webmuster aus echten Goldfäden und war mit glänzenden großen Rubinen reich verziert, die aus ihrer eigenen Mine stammten. Der Schneider, das wusste sie, hatte diesen Zuschnitt gewählt, um ihrer flachbrüstigen Figur eine schmeichelndere Linie abzugewinnen. Der Versuch war missglückt. Die Gemmen, die den Blick von der Unzulänglichkeit ihres Körpers ablenken sollten, wiesen geradezu darauf hin. Das verdammte Ding hat so viel gekostet, dass ich davon ein ganzes Dorf ein Jahr lang ernähren könnte, dachte sie verbittert, und dafür sieht es an mir aus wie ein billiger Fummel.
Ihr riss die Geduld. »Marutha!«, rief sie herrisch. »Marutha! Komm hierher!« Sie zog so heftig, wie Zorn und Enttäuschung es ihr eingaben, an der Klingelschnur, dass die Schnur samt Quaste abriss und herunterfiel.
»Was ist jetzt los, um Myrials willen?« Die alte Frau blieb keuchend in der Tür stehen und schlug sich theatralisch ans Herz. »Du wirst mich noch umbringen, jawohl. Lässt mich in meinem Alter so die Treppe heraufrennen!«
Plötzlich stockte sie in ihrer Schimpftirade. Seriema durchmaß mit drei Schritten den Raum und versetzte ihr einen so harten Schlag ins Gesicht, dass er auf der runzligen Wange einen roten Abdruck hinterließ.
»Wenn du zu alt bist, um die Treppe zu schaffen«, fauchte Seriema in die Stille hinein, »dann kannst du dein Bündel schnüren und das Haus verlassen. Und wenn ich noch eine einzige Anmaßung von dir höre, dann lasse ich dich in den Hof schleifen und vor der Dienerschaft verprügeln. Hast du verstanden?«
Marutha nickte. Zum ersten Mal war sie vollkommen still. Sie drückte sich die Hand auf die brennende Wange, und ihre Unterlippe zitterte. Sie schaute wie ein geprügelter Hund, und Seriema befiel ein starkes Schuldgefühl. Sie wusste genau, dass sie diesen Blick bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen und sich für ihre Tat verachten würde.
Hastig drehte Seriema der alten Haushälterin den Rücken zu. »Löse mir das Mieder und hol mich aus dieser verdammten juwelenverkrusteten Monstrosität heraus – und bring mir das schwarze Wollkleid.«
»Was?«, entsetzte sich Marutha. »Du wirst doch wohl zur Zeremonie nicht in dem alten schwarzen Ding gehen? Du wirst darin aussehen wie eine Küchenmagd!« Wie zu erwarten, hatte sich die gescholtene Frau rasch erholt. Und in einem Ausbruch neuer Aufsässigkeit fügte sie hinzu: »Und die übrige Dienerschaft ist schon zum Bezirk gegangen, bis auf Presvel. Du wirst deine liebe Not damit haben, wenn du mich vor ihnen verprügeln willst. Das soll man sich mal vorstellen …«
Seriema bemerkte jedoch, dass die Alte, obschon sie in einem fort murrte, mit ungewohnter Schnelligkeit gehorchte. Schon hatte sie das Kleid aufgehakt und ging auf den großen Schrank zu, wo sie unnötig heftig mit den Kleiderbügeln klapperte. Seriema riss sich das verhasste Kleid von den Schultern und stieg aus dem Rock. Sie knüllte das teure Gewebe zu einem Stoffballen zusammen und schleuderte ihn in die Ecke.
»Seriema!« Mit der schieren Macht der Gewohnheit kam die Schelte über Maruthas Lippen. »Das ist keine Art, ein teures Kleid zu behandeln. Und übrigens«, sagte sie schnell, bevor ihre Herrin zu einer bezwingenden Antwort kommen konnte, »ich kann das schwarze Wollkleid nicht finden. Wahrscheinlich wird es gerade gewaschen.«
Der listige Blick der Alten war Seriema nicht entgangen. Ohne ein Wort zu erwidern, ging sie aus dem Zimmer und lehnte sich über das Treppengeländer. »Presvel? Presvel!«
Von oben waren eilige Schritte zu hören, dann erschien ihr Diener – doch nicht in der Halle, wo sie ihn erwartet hatte, sondern auf dem oberen Treppenabsatz, der zu den Zimmern der Dienstmädchen führte.
»Was tust du dort oben?«, fragte sie überrascht.
»Oh – äh – in der Küche ist gestern Abend etwas abhanden gekommen, und ich wollte die Gelegenheit nutzen und die Räume der Mädchen durchsuchen, solange sie fort sind.«
An jedem anderen Tag hätte Seriema seine kluge Handlungsweise bewundert. Aber nun, nachdem sie entdeckt hatte, dass sie von Blank grob übertölpelt worden war, machte seine Erklärung sie misstrauisch. Nein, dachte sie müde, dem kann ich jetzt nicht nachgehen. Das wage ich nicht. Wenn sie ihn mit einem Dienstmädchen ertappte, müsste sie beide entlassen, und sie konnte sich der Möglichkeit, ohne ihn leben zu müssen, nicht stellen. Presvel war doch ihre rechte Hand!
»Herrin?« Seine Stimme,
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