Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
höflich und hilfsbereit wie immer, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. »Herrin, du hattest eine Aufgabe für mich?«
»Oh, ja.« Seriema, wohl gewahr, dass Marutha neugierig um die Türkante linste, holte tief Luft und befahl: »Lauf hinunter und bring mir die Gerte, die wir zur Bestrafung der Dienstmädchen benutzen.«
»Was soll ich holen?« Presvel riss die Augen auf.
»Fang nicht an, sie zu verteidigen«, sagte Seriema bestimmt. »Es kümmert mich nicht, wie alt Marutha ist – man muss ihr eine Lehre erteilen. Ich habe sie gewarnt, was geschehen würde, wenn sie sich mir weiterhin widersetzt.«
»Ach, Marutha willst du strafen. Sehr gut, Herrin. Ich gehe sofort.« Als Seriema ihn die Treppe hinuntereilen hörte, runzelte sie verwirrt die Stirn. Was ist denn heute in ihn gefahren? Wo ist sein flinkes, wohl bedachtes Auftreten geblieben? Ist denn heute jeder in diesem schrecklichen Haushalt darauf aus, mich zu ärgern?
Derweil ging sie in ihr Schlafzimmer und entdeckte, dass ihre List schon Erfolg gehabt hatte. Das schwarze Wollkleid war ordentlich auf dem Bett bereitgelegt.
»Na gut«, sagte Marutha grollend, »du hast gewonnen. Freue dich. Geh zur wichtigsten Zeremonie des Jahres wie eine Vogelscheuche – mich kümmert’s nicht. Aber du kannst dir von diesem kriecherischen Presvel das Kleid zuhaken lassen, denn ich werde es nicht tun – da kannst du mir drohen, bis du blau anläufst.« Und damit stampfte sie aus dem Zimmer, zufrieden, dass sie wie immer das letzte Wort hatte.
Gerade als Seriema sich das Kleid über den Kopf zog, kam Presvel mit der Gerte herein. »Brauchst du sie noch, Herrin?«
»Nein«, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln. »Sie hat ihren Zweck bereits erfüllt. Lass sie nur hier. Du kannst mir das Kleid zuhaken, Presvel, wenn es dir nichts ausmacht, und dann kannst du zu Ende bringen, was immer du zuletzt getan hast.« Während sie das sagte, beobachtete sie wachsam sein Gesicht, ob darin der Anflug einer Schuld zu entdecken wäre. Doch er war so unerschütterlich und gewandt wie immer.
»Selbstverständlich, Herrin. Es macht mir stets Vergnügen, dir zur Hand zu gehen. Übrigens habe ich nach dem Kind gesehen, es schläft friedlich, sodass kein Grund zur Sorge besteht.«
Sie spürte, dass er soeben den Spieß umdrehte und sie für ihren Mangel an Interesse tadelte. »Gut, freut mich zu hören.« Mit Absicht versuchte sie nicht ärgerlich zu klingen. »Hast du schon etwas wegen eines Kindermädchens unternommen?«
»Ich glaube, jemanden gefunden zu haben, Herrin. Ich dachte nicht, dass du dich am Tag des Großen Opfers damit befassen wolltest, und darum habe ich sie für morgen früh herbestellt. Sie ist die Tochter eines alten Freundes der Familie – vielleicht ein wenig jung für meinen Geschmack, aber sie hat schon für eine ganze Geschwisterschar gesorgt, sodass sie sehr viel Erfahrung besitzt. Ich glaube, sie wird dir gefallen, Herrin. Sie ist sehr scheu und zurückhaltend, aber sie scheint mir tüchtig zu sein.«
Seriema nickte ruhig, obwohl das Wort jung in ihr die Alarmglocke schrillen ließ. »Sehr gut. Danke, Presvel. Ich werde sie sofort morgen früh in Augenschein nehmen. Es ist wichtig, dass wir so schnell wie möglich jemanden bekommen.«
Tiaronds Straßen hatten sich schon geleert. Die Soldaten ließen das herbeiströmende Volk in Gruppen auf der Esplanade warten, bis sie an der Reihe waren, um durch den Tunnel in den Heiligen Bezirk eingelassen zu werden. Die meisten Menschen hatten sich schon früh eingefunden, sobald die Nachricht von der Rückkehr des Hierarchen sich verbreitete. Bei dieser Menschenmenge war es schwierig, einen guten Platz zu bekommen, und jeder wollte der Erste sein. Früher wurde die Zeremonie auf dem Berg abgehalten. Auf dem flachen Gipfel gab es eine große Senke, die der Krater eines alten Vulkans war. In deren Mitte stand Myrials Hochaltar, und rings auf den Steinterrassen konnte das Volk sitzen. Selbst kleine Kinder erhielten einen guten Ausblick auf das Geschehen. Wegen des Sturms konnte man den Altar in diesem Jahr nicht benutzen, und der Krater war zugeschneit. Eiligst hatte man die Vorkehrungen getroffen, um die Opferung im Heiligen Bezirk auf dem großen Vorhof zum Tempel abzuhalten. Obwohl in der Menge viele Beschwerden gemurmelt wurden, waren die meisten doch zufrieden damit, sich irgendwie hineinzuzwängen und einen möglichst guten Platz zu ergattern. In Wahrheit war niemandem daran gelegen, auf dem Gipfel
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