Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
sie konnte. Die Hände wurden unter Geheul zurückgerissen und hinterließen den Geschmack von Blut. Sie hatte gerade so viel Zeit, um einen ordentlich lauten Schrei auszustoßen, dann schlug der Unbekannte sie wieder, doch vielleicht hatte sie laut genug geschrien. Diesmal schmeckte sie ihr eigenes Blut, und ein paar Zähne fühlten sich lose an. Als ihr der Knebel wieder in den Mund gestoßen wurde, verlor sie einen Zahn. Wenn doch nur jemand ihren Schrei gehört hätte und käme! Bitte, Presvel, komm doch! Dann fielen ihr die frischen Blutspritzer ein, und ihr wurde kalt. War Presvel vielleicht schon tot?
Es war, als ob der Mann ihre Gedanken läse. »Das war ein Fehler«, sagte er, während er den Knebel mit einem Tuch festband. »Du hast dir nichts als Ärger mit deinem Schrei eingebracht. Es ist niemand da, der dir helfen kann. Ich habe in alle Zimmer gesehen, bevor ich zu dir gekommen bin. Der Mann ist fort. Ein Glück für ihn, wie?«
Seriema versuchte sich aufzurichten und schlug mit den Fäusten um sich, dann erstarrte sie. Sie spürte den kalten Stahl an ihrer Kehle.
»Das war der nächste Fehler«, sagte der Mann, »aber ich will dir das nicht vorwerfen. Schließlich gibt es einen Grund, warum ich dich nicht fessele. Ich will, dass du kämpfst, wie meine Frau es tun musste, und dich wehrst wie sie, und dass du irgendwann keine Kraft mehr hast, so wie sie, als deine Männer über sie herfielen.« Er zuckte die Achseln. »Ein Jammer nur, dass ich es ohne deine Schreie tun muss, aber daran kann ich nichts ändern.«
Er hockte sich auf die Fersen, balancierte über ihr, während er ihr das Messer an die Kehle drückte, und blickte auf sie herab, als wäre sie ein Insekt, das er im nächsten Moment zertreten wollte. »Ich werde dir erzählen, Seriema, was gestern meiner Frau zugestoßen ist, als deine Schinder kamen, um uns aus unserem Haus zu werfen. Ich will, dass du jede Einzelheit darüber erfährst, was sie gelitten hat, damit du genau weißt, was ich dir antun werde. Du wirst erleiden, was sie erlitten hat – die Demütigung, die Angst, die Schmerzen. Du wirst fühlen, was sie fühlen musste – und noch mehr. Lass mich zuerst erzählen, wie sie sie geschlagen haben -« Er schlug ihr hart ins Gesicht, dann noch einmal und ein drittes Mal.
Als das Klingeln in den Ohren nachließ, hörte Seriema ihn sagen: »Sie schnitten ihr das Kleid mit einem Messer vom Leib …« Die Klinge bewegte sich von ihrem Hals weg, und sie spürte den kalten Stahl auf der Haut, als er in ihr Mieder schnitt. »Ich würde an deiner Stelle sehr still liegen«, sagte er, »das tat Felyss auch. Sie hatte Angst, das Messer könnte sie schneiden – so wie du jetzt. Wie du dir sicher denken kannst, haben sie sie danach geschändet. Sie waren zu zweit, doch ich bin allein, sodass ich mir Gedanken über ein oder zwei kleine Besonderheiten machen muss, nur um des gerechten Ausgleichs willen.«
»Wird sie dich nicht bald suchen kommen?«, fragte Rochalla. Sie schuldete Presvel so viel und wollte daher nicht undankbar erscheinen. Aber ihr Leben hatte sich gerade gewaltig gewandelt, und außer völliger Erschöpfung verspürte sie auch den dringenden Wunsch, in dieser stillen kleinen Dachkammer allein zu sein, um sich an die plötzliche Veränderung zu gewöhnen.
Presvel verhielt sich zögerlich. »Nein. Ich habe die Tür zum Dachgeschoss hinter mir verschlossen. Außerdem wird sie annehmen, dass ich längst gegangen bin. Das hätte ich eigentlich tun müssen. Du wirst das Zimmer in Kürze für dich allein haben, sobald die Herrin ausgegangen ist. Dann kannst du dich ausruhen.«
Rochalla strich über den dicken, wärmenden Stoff des braunen Kleides, das sie jetzt trug, und dankte ihrem guten Stern, dass das entlassene Hausmädchen ihre Statur gehabt hatte. »Tatsächlich werde ich aber nicht allein sein«, hielt sie ihm entgegen. »Wer bleibt denn im Haus, um nach dem Kind zu sehen?«
»Nach dem Kind? Du liebe Güte – daran habe ich überhaupt nicht gedacht!«, rief Presvel aus. »Seriema hat mir die ganze Angelegenheit übertragen, aber ich kenne mich mit Kindern gar nicht aus. Eines der Mädchen hat ab und zu bei ihr ins Zimmer geschaut, aber die Kleine hat immer fest geschlafen. Wenigstens tat sie so. Ich dachte, das läge an der Erschütterung über den Verlust der Eltern, und beschloss, sie lieber allein zu lassen, damit sie von selbst da herauskäme. Sie ist ein so stilles kleines Ding, dass ich sie tatsächlich
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