Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
sehr vorsichtig sein müssen – und sehr solide –, aber heute hatte sie um Gottes willen einen Schluck nötig!
Mit der Flasche und einem Becher setzte sich Marutha an den Küchentisch und goss sich mit zitternder Hand eine großzügige Menge Weinbrand ein. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass Seriema tatsächlich die Hand gegen sie erhoben hatte. »Undankbare kleine Göre!« knurrte sie und unterstrich jedes ihrer Worte mit einem Schluck von dem billigen, scharfen Zeug. »Immer habe ich mich nur um sie gekümmert – und irgendjemand muss es doch tun! Dieses Mädchen hat den Verstand eines Sperlings! Es ist dieser verdammte hinterhältige Presvel, der mir das Wasser abgräbt, jawohl. Nichts ist mehr beim Alten, seit der hier ist – und zweifellos steckt er mit der Köchin unter einer Decke! Und mir damit zu drohen, mich vor der Dienerschaft prügeln zu lassen! Das ist nun der Dank für all die Jahre der Aufopferung und Treue …«
Maruthas Augen füllten sich mit Tränen. Ich sollte mich auf und davon machen, dachte sie. Dann werden sie ja sehen! Aber wo soll ich denn hin? Mein ganzes Leben habe ich in dieser Familie verbracht. Habe auf die Kleine aufgepasst, seit sie zur Welt gekommen ist. Was hätte sie ohne mich angefangen?
Es war seltsam, aber noch immer hatte sie das Gefühl, als beobachte sie jemand. Sie blickte sich nach der Katze um, doch dann fiel ihr ein, dass sie vor einer Weile durch das Küchenfenster verschwunden war, das einen Spalt offen stand. Vielleicht war es nur ein Luftzug. Sie bemerkte, dass die Tür zum Kohlenkeller nicht verschlossen war, aber sie konnte sich nicht aufraffen, das zu ändern. Sie zuckte die Achseln und goss sich noch einen Becher voll ein. Der Weinbrand machte sie unbesonnen. Wenn die Köchin und Seriema das Trinken nicht leiden können, müssen sie es mir ja nicht nachmachen!
Ivar spähte durch den engen Spalt an der Kellertür. Verdammte alte Hexe, dachte er. Will sie denn gar nicht mehr verschwinden? Er hatte gehofft, das Haus leer vorzufinden. Die Alte musste als Einzige dageblieben sein – außer der Schlampe natürlich. Sie würde durch die Vordertür gehen, und er würde ihre Schritte in der Halle hören.
Ivar begann unruhig zu werden. Die Zeit wurde knapp. Es war schon eine ganze Weile vergangen, seit die Köchin und die Mädchen in Sonntagskleidern hinausgeströmt waren. Nach dem Aufruhr, bei dem der Diener wegen der Gerte in die Küche gekommen war, hatte er keine Geräusche mehr von oben gehört. Wenn die Schlampe jemanden hatte verprügeln wollen, dann musste sie ihre Meinung geändert haben. Wie dem auch sei, nach dem heutigen Tage würde sie niemanden mehr schlagen.
Ivar warf wieder einen Blick auf die alte Dienerin. Das Licht, das durch den Türspalt drang, fing sich in der scharfen Klinge seines großen Messers. »Nein, meine Schöne«, hauchte er und strich zärtlich über den beinernen Griff, »sie wird dich nicht kriegen.« Die Messer waren einzig für Seriema bestimmt. Keines anderen Blut sollten sie benetzen – aber er musste etwas unternehmen.
Die alte Säuferin war schon beim zweiten Becher angelangt. Ivar durfte nicht noch länger warten. Kurz entschlossen schlich er wieder in den Keller hinunter. Im Dämmerlicht des Gitterfensters suchte er sich aus dem Haufen Feuerholz einen schönen kräftigen Knüppel aus. Er eilte die kurze steile Steintreppe hinauf, schob die Tür ein wenig weiter auf und schlüpfte hindurch.
Die Alte saß noch immer schluchzend und murmelnd über den Becher gebeugt. In zwei Sätzen war Ivar bei ihr. Er hob den Arm – und zögerte. Die Hand mit dem Knüppel begann zu zittern. Was tue ich da?, dachte er. Was ist über mich gekommen, dass ich mich an einem harmlosen alten Weib vergreife? Ich bin immer ein anständiger Mensch gewesen, bis heute. Ich bin nur hierher gekommen, um an der Einen Rache zu nehmen. Nach dem, was ihre Schinder meiner Felyss getan haben, kann es ihr gar nicht schlimm genug ergehen.
Plötzlich fuhr die alte Frau herum und sah ihn aus rot geränderten Augen genau an. »Wer bist du?«, fauchte sie und setzte zu einem Hilfeschrei an.
Ivar geriet in Panik. Sein Arm sauste nieder, schmetterte der Alten den Prügel über den Kopf. Sie sackte in sich zusammen und rutschte seitwärts vom Hocker auf den Boden, eine Hand lockerte ihren nutzlosen Griff um die Tischkante und fiel leblos auf den Körper. Ein anklagendes Rinnsal, dunkel und glänzend, sickerte unter dem Kopf hervor und breitete
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