Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Mund war staubtrocken. Ungeduldig winkte sie Galveron an ihre Seite. »Wein«, flüsterte sie. Der junge Leutnant reichte ihr eine Taschenflasche, aus der sie einen Schluck trank. Wie flüssiges Feuer rann es ihr die Kehle hinab und stärkte ihren Mut. Wortlos gab sie die Flasche zurück, dann nahm sie sich zusammen und tat den ersten unwiderruflichen Schritt auf die unterste Stufe zum Podest.
Plötzlich streckte Blank die Hand aus und hielt sie auf. »Hier«, sagte er, »das hätte ich fast vergessen.« Er reichte ihr den Ring des Hierarchen mit dem großen roten Stein. »Ich habe ihn Zavahl abgenommen«, erklärte er. »Du sollst ihn nun tragen.«
»Danke«, sagte Gilarra und schob sich den Ring über den Finger, der an ihrer kleinen Hand viel zu locker saß. Nun, sie würde ihn später ändern lassen. Sie nickte dem Hauptmann zu, raffte ihre Schleppe und schritt die Stufen hinauf.
Als sie auf der dünnen Plattform in Erscheinung trat, war sie innerlich auf eine heftige Reaktion der Menge gefasst, auf lauten Jubel, Feindseligkeit oder gar Spott. Stattdessen empfing sie eine tiefe Stille, die sie verunsicherte. Wie ein Dunst lag die Stimmung über dem beengten Schauplatz, wie ein Gespenst, das sich aus den Sumpfnebeln erhebt, schien sie über der Menge zu schweben. Und als wären dies die giftigen Ausdünstungen der östlichen Marschen, so hätte es hier nur eines Funkens bedurft, um ganz Tiarond in Brand zu stecken. Wie ein Abbild dieser Stimmung drohte schon der nächste Sturm. Noch war es windstill und drückend, die Luft prickelte, und eine finstere Wolkenbank, schwarzviolett wie ein Bluterguss, türmte sich immer höher über der Basilika und dem Berggipfel auf.
Die Tiarondianer standen dicht gedrängt und nah – gefährlich nah – um den Scheiterhaufen. Ganz vorne hatte man einige Stühle für die wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt – zumeist Kaufleute – aufgestellt, und dort saßen sie in warme Mäntel gehüllt und wirkten feindselig und selbstgerecht. In ihrer Mitte bemerkte die Suffraganin einen freien Stuhl, und sie fragte sich, was Seriema nun wieder damit bezweckte, dass sie sich gegen eine Teilnahme entschloss und das Tempeledikt missachtete.
Dann blickte Gilarra auf Zavahl, und alle Gedanken an Seriema waren beiseite gewischt. Er stand so unbewegt und bleich wie ein Marmorblock, sein Blick leer und ohne Begreifen, als ob er überhaupt nicht begriffe, wie ihm geschah – oder als sei es ihm gelungen, sich der Wirklichkeit zu entziehen. Bei seinem Anblick ging ein Schauder durch ihren Körper. Wenn sich die Dinge nicht bald ändern, dann könnte ich im nächsten Jahr leicht in dieselbe Lage kommen, dachte sie.
Sie wünschte sich sehr, es genau zu wissen, wann die Sonne untergehen würde. Die blassen, erhobenen Gesichter der Menge wurden schon undeutlich, und Gilarra fragte sich besorgt, ob sie etwa schon zu lange gewartet hatte.
Unter sich hörte sie ein unablässiges Flüstern. Dann stieß Blank ihr den Ellbogen in die Seite und riss sie aus ihrer Träumerei. »Bei Myrial, fang endlich an«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen und reichte ihr die brennende Fackel, damit sie das Feuer anzünde.
Gilarra atmete tief ein. »Großer Myrial – erhöre unser Gebet!«, rief sie und spürte, wie die Menschen die Luft anhielten, als sie die Fackel hob. Mit eigens geübter Stimme, die bis zu den hintersten Reihen zu hören war, intonierte sie die flehentliche Bitte um die Gnade des Gottes:
»O Großer Myrial, der du die Welt aus deinem Fleisch, Blut und Gebein geschaffen hast,
O Großer Myrial, wende dich zu uns,
Wir sind deine Kinder, dein Eigentum und deine Ernte. Du säst unsere Seelen auf die Welt und erntest zu deiner Zeit und nach deinem Willen,
O Großer Myrial, wende dich zu uns,
Großer Myrial, schütze uns,
Großer Myrial, vergib uns unsere Verfehlungen und Fehler, nimm unsere Buße und unser Opfer an,
Großer Myrial, wende dich noch einmal zu uns hin,
Großer Myrial, steh uns bei und tröste uns
und tauche uns in den Glanz deiner Liebe.«
Gilarras Stimme erhob sich zu einem Crescendo über den Köpfen der versammelten Gemeinde. »Großer Myrial – erhöre unser Gebet!«
Der raunende Chor der Tiarondianer wiederholte ihre letzten Worte, dann warf die Suffraganin die Fackel in den Scheiterhaufen. Nichts geschah. Die süß riechenden Öle, die man auf das Holz gegossen hatte, fingen Feuer, aber die Scheite begannen nur zögerlich zu glimmen. Kurz darauf
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