Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Umständen ein Auge zudrücken würde. Doch offenbar war er dafür zu redlich. Vielleicht wären die Wachen am Kanaltor etwas beweglicher. Wenn sie Agella nur eine Nachricht zukommen lassen könnte, würde die Schwester sicher einen Weg finden, um sie einzulassen.
Angetrieben von dem jämmerlichen Zustand ihrer Tochter, beschloss Viora, es zu versuchen. Aber Galveron musste zunächst getäuscht werden. Wenn er ihren Plan erriete, würde er mit Sicherheit verhindern, dass sie in den Heiligen Bezirk gelangten. Wenn er hingegen annähme, dass die Familie die Stadt verlässt, würde er sich nicht weiter um sie kümmern. Sie drehte sich wieder um und schämte sich, dass ihr die Lügen so mühelos einfielen. »Ich frage wirklich nicht gern, nachdem du schon so viel für uns getan hast. Aber kennst du nicht einen Ort, wo wir unterschlüpfen können?«
Galveron seufzte. »Es tut mir Leid, Frau. Da ihr natürlich kein Geld besitzt, kommt eine Herberge nicht in Frage. Und jeder andere hat zurzeit selbst genug Sorgen. Es scheint für euch keinen anderen Platz zu geben als Seriemas Lagerhäuser, und tatsächlich solltet ihr euch dorthin begeben. Denn die Häuser, wo sie ihre Waren lagert, sind in wesentlich besserem Zustand als die, welche sie vermietet, sodass ihr es dort warm und trocken antreffen werdet.«
Ivar drückte seine zitternde Frau an sich und entgegnete leise knurrend: »Felyss’ Familie mag dorthin gehen, wenn sie will, aber ich und mein Mädchen wollen nichts mehr mit dieser hartherzigen Schlange zu tun haben, und auch nichts mit ihrem Besitz. Nicht nach allem, was sie uns heute angetan hat. Und wenn wir heute Nacht auf der Straße sterben!« Stolz hob er den Kopf, doch es lag ein hässlicher Glanz in seinen Augen.
»Ich habe Verständnis für deinen Abscheu«, sagte Galveron stirnrunzelnd. »Aber das Wetter ändert sich. Ein Sturm kommt auf, und es wird noch vor Einbruch der Dunkelheit schneien. Bedenke das, Mann. Du könntest vielleicht damit zurechtkommen, aber deine Lebensgefährtin ist nicht in der Verfassung, einem Schneesturm zu trotzen. Ihre Eltern ebenso wenig. Sie würden es nicht überstehen.«
Ivar murmelte etwas Unverständliches, das sich wie das Knurren eines Tieres anhörte. Viora lief ein Schauder über den Rücken. Galveron las ihr die Sorge vom Gesicht ab und wandte sich noch einmal an Ivar. »An eurer Stelle würde ich die Stadt verlassen und nach Süden reisen, bevor der Winter allzu hart wird. Die Dinge sind dort nicht leichter wegen der Überschwemmungen, aber das Land ist fruchtbarer und das warme Klima besser für eine obdachlose Familie. Ich weiß, dass in letzter Zeit viele dorthin gezogen sind, aber die Entscheidung liegt bei euch.«
»Was auch geschieht, Ivar, wir halten zusammen«, sagte Ulias. »Und wie gesagt, die Entscheidung liegt bei dir.« Er sah ihn wartend an. Ivar war der Hausvorstand gewesen, und er war es, der den Schurken getötet hatte. Deshalb überließ Ulias die Wahl ihm.
Nach kurzem innerem Ringen nickte der Schlachter. »Wir wollen es versuchen«, sagte er entschlossen. »Nichts hält uns noch in dieser verfluchten Stadt. Ich möchte Felyss von hier fort und an einen sicheren Ort bringen, wo sie diesen schrecklichen Tag vergessen kann – falls das überhaupt möglich ist.«
»Ich hatte schon eingepackt, was ich konnte«, warf Viora ein. »Wenn es nicht verbrannt ist …« Sie eilte ins Haus. Seriemas Trupp hatte den Schwelbrand gelöscht und war dann verschwunden, ohne noch einmal die Aufmerksamkeit der Gottesschwerter zu erregen. Viora kam mit den kostbaren Bündeln hinaus, die nur ein wenig schwarz vom Ruß waren.
»Ich wünsche euch viel Glück«, sagte Galveron warmherzig. »Wir werden euch zu den Toren begleiten. Es ist ratsam, draußen einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen und den Weg beim ersten Tageslicht fortzusetzen.« Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Möge Myrial euch alle beschützen.«
Viora zog aus einem Bündel ein paar warme Kleidungsstücke für Felyss und wickelte sie so gut es ging darin ein. Die junge Frau ließ es teilnahmslos geschehen, dass man ihr die Glieder in die Kleider hüllte. Ihre Augen starrten in die Ferne, doch der Blick war nach innen gerichtet in einen finsteren Abgrund mit unerträglichen Qualen. Man würde sie führen müssen. Galveron gab die kläglichen Gepäckstücke seinen Soldaten, die sie bis zum Stadttor tragen würden. Also werden wir nun die Stadt verlassen, dachte Viora und schaute sich noch ein
Weitere Kostenlose Bücher