Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
letztes Mal nach den rauchenden Häusern im Geißenhof um. Bis zu diesem Tag war das Viertel ihr Zuhause gewesen, und ein glücklicher Ort dazu. Niemand, der dort gelebt hatte, war jemals begütert gewesen. Aber man hatte sich gegenseitig geholfen und trotz der armseligen Schäbigkeit gelacht und geliebt. Das ist nun alles dahin, dachte Viora bitter.
Nachdem Galveron die Familie zu dem Stadttor begleitet hatte, eilte er mit seiner Patrouille zur Zitadelle zurück. Sein Zorn über die Grausamkeiten hielt unvermindert an. Der Sergeant ging neben ihm. »Du wirst kaum dabei sein, wenn Seriema sich bei Hauptmann Blank beschwert. Hast du je bemerkt, was er ihr alles durchgehen lässt, das er von keinem anderen erdulden würde? Wenn du mich fragst, er hat eine Schwäche für sie – oder wohl eher für ihr Geld.«
»Wohl eher«, stimmte Galveron zu. »Aber wie dem auch sei, wenn sie sich beschweren will, dann nur zu. Blank mag mich aus dem Dienst entlassen, wenn es ihm passt. Erst recht nach dem, was ich heute gesehen habe.«
»Da hast du Recht. Wenn es das ist, was du willst, ich kann’s dir nicht verübeln.« Der Sergeant spuckte einmal kräftig in den Rinnstein und fügte dann nachdenklich hinzu: »Alles in allem hast du aber als Leutnant der Gottesschwerter mehr Gutes getan, als du es als Schlachter gekonnt hättest.«
»Als Schlachter?« Galveron blickte ihn fragend an. »Was hat ein Schlachter damit zu tun?«
»Das ist der Beruf von dem Lebensgefährten dieses armen Mädchens.« Der Sergeant sah seinen Leutnant von der Seite an. »Hast du nicht die Messer gesehen? Und er hat diesem Bastard die Kehle so sauber durchgeschnitten, wie ich es noch nie gesehen habe.« Ein böses Grinsen zog sich über sein Gesicht. »Ja, wirklich, das war gekonnt. Hat bestimmt schon eine Menge Schweine geschlachtet, will ich meinen. Da war eins mehr kein Problem für ihn.«
»Schlachter, hm? Dann hätten wir die Messer vielleicht lieber beschlagnahmen sollen«, erwiderte Galveron und zog die Brauen zusammen.
»Aber warum denn? Man würde ihm damit den Lebensunterhalt nehmen.«
»Eben darum habe ich es nicht getan, Dawel. Ich beschloss, zu seinen Gunsten zu entscheiden. Nach allem, was er durchgemacht hat, würde sich wahrscheinlich jeder Mensch vor Zorn vergessen. Aber darüber hinaus strahlte er noch etwas aus, das mich unruhig macht.« Galveron schüttelte den Kopf. »Dawel – schick einen Mann zurück. Er soll ihnen ungesehen folgen und aufpassen, ob die Familie wirklich die Stadt verlässt. Wenn ich überzeugt wäre, dass dieser Schlachter auch in Zukunft nur das Vieh sticht, bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen. Aber wenn das Erlebte ihm den Verstand verdreht hat, wer weiß, zu welcher Rache er dann fähig ist.«
Mit wehendem Mantel eilte Zavahl, gefolgt von Gilarra, die Wendeltreppe hinunter, die von seinem Privatgemach in das Vestibül an der Rückseite der Basilika führte und vor einer schweren Eichentür mit Bronzerelief endete, welche seine Abgeschiedenheit schützte. Mit ausgestreckten Armen drückte er die Türflügel auseinander und gelangte in die Heilige Halle der Anbetung.
Hinter ihm hallte das energische Klacken von Gilarras hohen Absätzen, die sie in dem hoffnungslosen Bemühen trug, dass ihre winzige Statur an Höhe gewänne. Zavahl war Gilarra inzwischen ein gutes Stück voraus und trat allein durch das Portal der Basilika nach draußen in die kalte, vom Regen gereinigte Luft. Gierig atmete er durch. Jedes Mal wenn er die geheimnisvolle Dunkelheit der weiten Halle durchquert hatte, erschien ihm selbst ein grauer Regentag blendend hell. Der Hierarch drehte sich um und schaute an der Front des Tempels empor. Sein Blick kletterte die Säulen und Bögen entlang und zu den Baikonen hinauf, die in schwindelnder Höhe die Fassade zierten. Das alles war aus dem nackten Fels gehauen, und Zavahl mutete es an wie ein wahres Wunder. Wie immer fand er es unglaublich, dass dies sein Zuhause sein sollte.
Dann eilte er die hohe Mauer der Zitadelle entlang, die auf die gleiche Weise wie der Tempel entstanden war, und folgte dann der Straße, die auf der einen Seite an den niedrigen Häusern der Priester und Priesterinnen vorbeiführte. Auf der einen Seite befanden sich die Bibliothek mit der angrenzenden Schule, das Skriptorium und dahinter das Haus der Heilung. Schließlich war er auch an den Blumen- und Obstgärten vorüber und gelangte an die Mauer und das goldene Gitter des Inneren Tors. Ober die sonst
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