Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
die Kindheit zurück. Wenn er sich das Knie aufgeschlagen, ein Spielzeug zerbrochen, eine Aufgabe für unlösbar gehalten hatte, war seine Mutter für ihn da gewesen. Sie hatte ihn umarmt und wieder aufgerichtet. Ihre klugen Hände konnten damals alles wieder richten, außer einem gebrochenen Herzen, und ihre weisen Ratschläge brachten die meisten Probleme zum Verschwinden …
Elion riss sich ruckartig aus diesem Gedanken. Seine Mutter war schon viele Jahre tot. Er war nun erwachsen und sollte wohl fähig sein, Schwierigkeiten selbst zu meistern. Nur dass er gerade dastand und jemanden um Hilfe bat, den er nicht einmal sehen konnte. »Kannst du diesen Haufen Hundefutter dazu bringen, dass er sich bewegt?«, fragte er schroff.
*Ich glaube, ja. Doch was das Pferd betrifft, da bin ich mir schon nicht mehr so sicher!* Der Windgeist brach in helles Lachen aus.
»Sehr witzig«, quetschte Elion durch die Zähne, wobei er sich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis er sie zur Gänze abgeschliffen hätte. »Wenn du jetzt vielleicht so weit wärest …«
*Zu Diensten, mein lieber Wissenshüter.* Noch immer schwang ein Lachen in ihrer telepathischen Stimme mit. *Wate jetzt ans andere Ufer, und halte dich bereit, um das Pferd einzufangen.*
Elion ging durch das kalte Wasser und fragte sich, was sie im Sinn hatte. Sie könnte eine Illusion erzeugen – das wäre die beste Methode. Einen Löwen oder einen Bären – was das dumme Vieh so richtig aufschreckt. Elion wurde es unbehaglich zumute. Wie viel weiß ein Elementargeist über Pferde?, dachte er. Das Bachbett ist schlüpfrig. Wenn sich das Pferd zu Tode erschreckt, wird es vielleicht durchgehen, ausgleiten und sich ein Bein brechen! Das wäre ein schöner Schlammassel. Schließlich soll es mich auch wieder nach Hause tragen …
Er erreichte das Ende der überfluteten Wegstrecke, wo der Passweg sich verbreiterte, und vernahm schon das Hufgetrappel. Doch zu seiner Verblüffung hörte er einen ruhigen, gleichmäßigen Trab, und einen Augenblick später tauchte das Pferd aus dem Schneegestöber auf. Elion blinzelte, denn da kam nicht eines, da kamen zwei Pferde: des Wissenshüters kastanienbraune Geißel und voran eine kleine unscheinbare Stute. Das reizbare Mistvieh hatte die Ohren nach vorn gestellt, einen seligen Schimmer in den Augen und folgte ihr wie ein Lamm.
Während Elion noch offenen Mundes das Wunder bestaunte, verschwand die Stute. Der Fuchs wieherte mitleiderregend und blickte verwirrt um sich. Dann, als sein Reiter herantrat und die Zügel nahm, verfiel er wieder in seinen alten Charakter, legte die Ohren an und schnappte nach ihm. So lästig der Luftgeist auch sein konnte, hier musste Elion seine Anerkennung aussprechen: »Thirishri, das war verblüffend. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie hast du die Bestie gezähmt – wenigstens für eine Weile?«
Der Windgeist schimmerte vor Vergnügen und erzeugte einen flimmernden Regenbogen auf dem Schneeschleier. *Wirklich nicht der Rede wert – ich habe nur eine Illusion aus der Erinnerung deines Pferdes erzeugt. Sie war seine Mutter*, erklärte Thirishri und lachte leise über Elions Verdruss.
Elion wünschte allen Luftgeistern und Pferden die ewige Verdammnis, sicherheitshalber auch all ihren Müttern, und trat an Aethon heran. Er war also tot – schon kalt und steif, die vormals goldene Haut zu Aschgrau verblasst. Der Wissenshüter wandte sich aufgewühlt und traurig ab und begann die unzähligen Fußabdrücke in Schnee und Morast zu untersuchen. Falls Kaz und Veldan dieses Terrain auf eigenen Füßen verlassen haben sollten, wäre es zumindest nicht feststellbar. Die Soldaten, die den Drachen ausgegraben hatten, hatten auch Geröll und Äste auf die Seite geräumt und aufgeschichtet. Die Wasserflut wurde nun in die Schlucht abgeleitet.
Elion kletterte ein Stück den Abhang hinab auf der Suche nach dem Flüchtigen, den Thirishri gerettet hatte. Sie eilte ihm voraus und blies den dichten Schnee fort. Ohne ihre Hilfe hätte er den Mann wohl kaum gefunden. Er hatte erstickte Hilferufe erwartet, oder möglicherweise Schimpfen und Fluchen, aber der Mann war entweder zu schwer verletzt, um zu rufen, oder er litt grimmig und still vor sich hin. Elion war besorgt und erstaunt zugleich. Warum sah und hörte er nichts von ihm? Waren seine Verletzungen am Ende schlimmer, als Thirishri gedacht hatte?
*Halte dich ein wenig links*, wies sie ihn an, *der Mann ist noch etwa zehn Fuß entfernt.*
Elion näherte
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