Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
sich aufmerksam, dann entdeckte er ihn: Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten in einer Kuhle und mühte sich damit ab, unter zwei schweren Baumstämmen und verschiedenerlei Geäst hervorzugelangen. »Thirishri?«, fragte Elion argwöhnisch.
*Was hätte ich denn tun sollen? Du hast eine Ewigkeit gebraucht, um hierher zu kommen, und ich hatte Angst, dass er uns davonläuft und wir ihn noch einmal einfangen müssen.*
»Wirklich, Thirishri – du solltest dich was schämen! Ist das die Tat eines Wissenshüters? Glaubst du nicht, dass der arme Kerl genug durchgemacht hat? Das ist doch schrecklich, jemandem so etwas anzutun.«
*Es hat seinen Zweck erfüllt, oder nicht?*, erwiderte der Luftgeist ohne jede Reue. Kopfschüttelnd eilte Elion dem Mann zu Hilfe. Als er sich bei dem Gefangenen niederkniete, war er zutiefst bestürzt. Denn er blickte in das schreckverzerrte Gesicht eines verzweifelten Menschen. »Keine Angst!« sagte er schnell. »Ich heiße Elion – ich will dir helfen. Du bist jetzt außer Gefahr.«
Der Mann schüttelte heftig den Kopf. »Meine Familie«, stöhnte er jammervoll. »Kanella, die kleine Annas …« Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Elion wandte sich verstört ab, er fühlte sich bei seinem eigenen Leid berührt. Unbeholfen klopfte er dem Mann auf die Schulter und räusperte sich. »Gut – versuche nicht zu sprechen. Zuerst das Wichtigste … äh, wir müssen aus dem Dreck hier raus.«
Tormon war noch so fassungslos über seine wunderbare Rettung vor den Häschern des Hierarchen, dass er sich zunächst gar nicht über das Auftauchen des rätselhaften jungen Mannes wunderte. Wie sein unbekannter Wohltäter ihn von den Lasten befreite, die ihn zu Boden gedrückt hatten, nahm er kaum wahr, denn ihm standen immerzu dieselben entsetzlichen Vorstellungen vor Augen: Kanella ermordet, Annas, sein fröhliches Kindchen, tot irgendwo in dieser abscheulichen Gruft, in diesem Sinnbild des Krieges, der Grausamkeit des Menschen und der Zerstörung. Ober diesen qualvollen Visionen tauchte das Gesicht des Hierarchen auf, das arrogante, verschlossene Gesicht eines vollkommen auf sich selbst bezogenen Menschen, der seine Verantwortung hinter dem Dienst an irgendeiner höheren Macht versteckt und dabei sein Mitgefühl für die Menschen, die seiner Herrschaft unterstehen, erstickt. Unschuldige ermordet? Einfache, vertrauensvolle Leute getäuscht und betrogen? Die Schuld trägt Myrial, nicht Zavahl. All sein Tun dient dem Ruhm des Gottes und gehorcht Seinem Willen.
Tormon wusste, dass es keinen Grund zur Hoffnung gab. Sicherlich war es bereits zu spät. Während der Stunden, die er in dieser kalten Einöde am Boden lag, war er zu der grauenvollen Einsicht gelangt, dass der Hierarch den Hinterhalt schon vor dem Aufbruch geplant hatte. Zavahl musste beschlossen haben, den Fund des Drachen sich selbst zuzuschreiben, und dafür zu sorgen, dass er, Tormon, niemals mehr reden würde. Solch ein ruchloses Vorgehen konnte nur eines bedeuten: dass man auch seine Lebensgefährtin und seine Tochter zum Schweigen gebracht hatte. Annas und Kanella waren bereits tot.
Ein kalter und tödlicher Zorn nahm von ihm Besitz. Noch niemals in seinem Leben hatte der Händler vorsätzlich einem anderen Menschen geschadet, aber das würde sich jetzt ändern.
»Also, Mädchen, es sieht ganz so aus, als hätte ich dich noch rechtzeitig ins Bett verfrachtet«, sagte Toulac leise und zog der Schlafenden die Decke noch ein Stückchen weiter über die Schultern. Die alte Kriegerin schaute auf ihren Gast hinunter und seufzte. Aber mit dem Einschlafen hättest du noch ein bisschen warten können, fuhr sie in Gedanken fort. Es gibt so vieles zu fragen, und solange du schwach und benommen bist, könntest du dich ein wenig verplappern können, meine geheimnisvolle Dame. Beim nächsten Aufwachen wirst du schon wieder lebendiger und mehr auf der Hut sein.
Toulac war enttäuscht – aber nicht überrascht – gewesen, als sie ihren Gast halb ziehend, halb tragend zurück ins Bett befördern musste. Die kleine Närrin war so unvernünftig gewesen aufzustehen und hatte sich viel zu schnell bewegt. Toulac konnte ihr freilich den Drang nachfühlen, den Freund zu sehen und sich zu vergewissern, ob es ihm gut ging. Doch ihr Gast hatte kaum einen Bissen Brot in den süßen Tee tunken und essen können, dann war sie schon wieder bewusstlos geworden. Also war Toulac mit ihrer Neugier sich selbst überlassen.
»Na schön, es hilft auch nichts,
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