Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
sie mit ihm. Erschrocken quiekend ließ sie sich auf alle viere nieder, um das Gleichgewicht zu behalten. Ihr Magen sagte ihr, dass es sehr schnell abwärts ging. Vorsichtig tastete sie nach den Wänden und verbrannte sich die Fingerspitzen an der vorbeisausenden Oberfläche.
Plötzlich hörte der Boden auf zu fallen, und der Ruck war viel geringer, als sie erwartet hatte. Ein kurzes Knirschen war zu hören und dann ein Zischen. Die Umgebung blieb dunkel, doch als sie die Hände ausstreckte, war die Wand vor ihr verschwunden und der Weg frei. Zunehmend ärgerlich rappelte sie sich hoch.
Das ist lächerlich! Warum haben sie hier verdammt noch mal nicht ein paar Lampen aufgehängt?
Dann fiel ihr ein, dass ja wohl niemand sich um die Lampen kümmern könnte, wenn der Eintritt nur dem Hierarchen gestattet war. Außerdem konnten durchaus überall Lampen verteilt sein, die aber nicht brannten. Wie sollte sie das wissen?
Sehr behutsam machte Gilarra den nächsten Schritt und tastete nach allen Seiten. Da war nichts, keine tröstenden Wände, kein Gegenstand irgendeiner Art. Der Raum konnte grenzenlos sein oder die Größe einer Schlafkammer haben. »Holla!«, rief sie versuchsweise. »Ich bin die neue Hierarchin.« Die Worte hallten lange nach und verklangen. Es musste ein riesiger Raum sein.
Wieder schob sie sich langsam voran – und fast blieb ihr das Herz stehen. Eine Handbreit neben ihr endete der Boden, ihr rechter Fuß wippte über dem Rand eines Abgrunds. Dasselbe fand sie auf der linken Seite. Sie stand bei größter Dunkelheit auf einer Brücke, die nur zwei Fuß breit war und keinen Handlauf hatte. Unter ihr … Sie konnte sich nicht vorstellen, was unter ihr war. Wasser? Felsen? Ein bodenloser Abgrund? Ein kurzer Fall auf eine weiche Matratze?
Träum weiter!
Mit peinlicher Langsamkeit ließ sie sich wieder auf Hände und Knie nieder. Ohne viel Hoffnung griff sie über die Kante nach unten. Tatsächlich. Nichts.
Also lieber nicht fallen. Ich möchte wirklich nicht wissen, wie tief es wirklich ist.
Sie wusste auch nicht, wie lang die Brücke war, aber es gab nur ein Mittel, um das herauszufinden. Und umso zweckmäßiger war doch der Einfall, auf allen vieren zu bleiben. Die Brücke bestand aus einem sehr glatten Stein und eine leichte Steigung war zu spüren, sodass sie vielleicht einen Bogen beschrieb oder weiter gerade anstieg. An den Kanten entlangtastend, rutschte sie Zoll für Zoll auf Knien voran.
Komm zurück Zavahl. Alles vergessen und vergeben. Du kannst wieder Hierarch sein, so lange wie du willst, und ich verspreche dir, dass ich nie wieder neidisch bin.
Gilarra konnte ein paar Augenblicke oder einen Monat lang gekrochen sein, in dieser finsteren Stille war ihr Zeitgefühl verschwunden. Zuerst dachte sie daran zu zählen, doch es beunruhigte sie zu sehr, was noch vor ihr lag, als dass sie sich darauf einlassen konnte. Sie würde sich doch nur verzählen. Dann hatte sie den Scheitelpunkt des Brückenbogens erreicht und rutschte von nun an abwärts. Endlich spürte sie erleichtert, wie die Kanten zur Seite führten und auf ebenen Boden übergingen. Dennoch war es allein ihr Stolz, der sie wieder auf die Beine brachte.
Wo du auch bist, Großer Myrial, ich werde dir nicht auf Knien begegnen.
Der Hierarchin blieb nichts anderes übrig, als mit ausgestreckten Armen weiterzutasten, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu treffen, das ihr einen Hinweis geben konnte, wie sie weiter zu verfahren hätte. Mit einer Hand stieß sie gegen einen senkrechten Klotz, der etwa hüfthoch war. Sie glitt mit den Händen über alle Flächen. Es war eine Art Säulenfuß oder Sockel. Oben war er leicht abgeschrägt und die Form einer Hand war ausgespart. Ein Schauder der Erregung durchlief sie. Das musste es sein, wonach sie hier suchte!
Sie spuckte sich in die rechte Hand, die vom Herumrutschen auf dem Boden sicherlich schmutzig war, und wischte sie an der Robe ab. Was würde Zavahl wohl sagen, wenn er jetzt sehen könnte, wie sie das heilige Gewand dermaßen beschmutzte. Aber vielleicht sollte sie hier lieber auf Myrials Verständnis hoffen. Die alten Texte drückten sich nicht klar aus, ob sie an dieser Stelle still sein oder etwas sagen sollte. Nein, entschied sie. Wenn es etwas zu sagen gäbe, dann hätte man ihr sicherlich mitgeteilt, was. Außer natürlich es wäre ein hohes Geheimnis, das nur mündlich von einem Hierarchen zum nächsten …
Sei nicht albern! Es kann gar nicht sein, dass ich nach all der Zeit
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